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Nur Mut, liebe Ruth

Nur Mut, liebe Ruth

Titel: Nur Mut, liebe Ruth
Autoren: Marie Louise Fischer
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ließ, sonst konnte ich nicht einschlafen.“
    Silvy fuhr stracks in die Höhe.
„Jetzt weiß ich auch etwas!“
    „Ja?“
    „Ich wollte nie allein in der
Wohnung bleiben. Ich habe ein Mordstheater aufgeführt, wenn meine Eltern mal
abends ausgehen wollten.“
    „Fein, daß dir doch noch etwas
eingefallen ist“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „die Angst vor der Dunkelheit und
die Angst vor dem Alleinsein sind zwei gute Beispiele für den Begriff Angst.
Kann mir eine von euch vielleicht sagen, wo der Unterschied zwischen Furcht und
Angst liegt?“
    „Da gibt es überhaupt keinen“,
behauptete Katrin prompt.
    „Irrtum“, sagte Frau Dr.
Mohrmann und sah sich erwartungsvoll in der Klasse um.
    „Fragen Sie doch mal Ruth“,
rief Silvy übermütig, „die ist Expertin in diesen Problemen!“
    Einige Schülerinnen lachten
beifällig, aber Frau Dr. Mohrmann war über diesen Zwischenruf nicht erfreut.
„Nicht so vorlaut, Silvy“, tadelte sie, „es würde dir sicher auch nicht
gefallen, wenn wir dich als Expertin für Naseweisheit bezeichnen würden, nicht
wahr?“
    „Aber ich habe doch bloß einen
Spaß machen wollen“, verteidigte sich Silvy.
    „Mach deine Späße in Zukunft
nicht auf Kosten anderer“, sagte Frau Dr. Mohrmann, „dann werde ich mitlachen.“
Sie sah sich in der Klasse um. „Na, weiß niemand, auf was ich hinauswill? Nun,
dann werde ich es euch erklären. Angst ist ein unbegründetes Gefühl. Denkt nur
an die Angst im Dunkeln, die bei vielen Kindern auftritt. Ein Raum, in dem man
sich eben noch behaglich und geborgen gefühlt hat, wirkt plötzlich bedrohlich,
nur weil das Licht ausgegangen ist...“
    „Ja, das verstehe ich“, sagte
Silvy, „genauso war es ja auch mit meiner Angst vor dem Alleinsein. In unserer
Wohnung im dritten Stock konnte mir ja nicht wirklich etwas Schlimmes
passieren.“ Katrin meldete sich. „Ich habe mal einen Mann gekannt, der hatte Platzangst...
also, der hatte Angst, einen offenen Platz zu überqueren, und nachher wollte er
überhaupt nicht mehr auf die Straße gehen.“
    „Ja“, sagte Frau Dr. Mohrmann,
„auch das ist ein gutes Beispiel, wenn auch in diesem Fall die Angst schon
krankhaft war. Es gibt viele solche Ängste. Angst vor dem Eingesperrtsein,
Angst vor großer Höhe... oder auch viel allgemeinere Ängste, Lebensangst, also
Angst vor dem Leben überhaupt, Existenzangst, das ist Angst, die Grundlage der
Existenz zu verlieren, und noch viele andere mehr.“
    „Aber man könnte doch genauso
gut sagen, daß die Leute sich vor diesen Dingen fürchten“, sagte Hanne, ein
Mädchen aus den hinteren Reihen, „wo ist denn da der Unterschied zwischen Angst
und Furcht?“
    „Das werde ich euch jetzt
gleich erklären. Nehmen wir einmal an, ein Kind ist allein in der Wohnung
zurückgeblieben, die Eltern sind ausgegangen. Das Kind hat gar keine Angst, es
ist sicher, daß ihm in den vertrauten Räumen nichts passieren kann. Plötzlich
riecht es nach Rauch. Da beginnt das Kind sich zu fürchten.“
    „Es hat Angst, daß es brennen
könnte“, sagte Katrin.
    „Richtig. Diese Angst vor einer
wirklichen oder möglichen Gefahr nennt man Furcht.“
    Leonore sprang auf. „Darf ich
mal ein Beispiel nennen? Ein Mädchen geht abends nach Hause. Es ist schon
stockdunkel, aber sie hat gar keine Angst. Plötzlich hört sie Schritte hinter
sich, da beginnt sie sich zu fürchten. Denn sie hat gemerkt, daß ein Mensch
hinter ihr herkommt. Sie weiß nicht, wer es ist und was er im Schilde führt.“
    „Sehr richtig, Leonore, du hast
es genau erfaßt. Die Angst ist etwas Lähmendes, Überflüssiges, was den Menschen
bedrückt, Furcht ist aber genau das Gegenteil. Sie wirkt alarmierend. Sobald
man sich fürchtet, wird man hellwach, das Herz klopft schneller, der Verstand
arbeitet auf Hochtouren, und alle Sinne sind gespannt, so daß man der Gefahr
nach bestem Vermögen begegnen kann.“ Silvy hatte schon seit einiger Zeit ihren
Finger wie wild nach vorn geschleudert. Jetzt, als Frau Dr. Mohrmann sie
endlich zu Wort kommen ließ, erklärte sie ganz atemlos: „Ich habe es längst
kapiert! Jemand, der Angst hat, fängt an zu zittern und zu weinen, und jemand,
der sich fürchtet, unternimmt etwas gegen die Gefahr!“ Sehr stolz über ihren
Gedankenblitz, blickte sie sich triumphierend in der Klasse um.
    „Sehr richtig, Silvy“, lobte
Frau Dr. Mohrmann, „komm her! Zur Belohnung darfst du die Aufsatzhefte
austeilen!“
    „Aber jetzt doch nicht mehr!
Wir haben doch soviel Zeit
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