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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher
Autoren: Wim Westfield
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sicher eine weite Fahrt von Kiel hierher?«
    Die Dame reicht ihm das Akkreditierungsschildchen. Jonas heftet es sich an das Jackett und fragt: »Ist Herr Fliege auch hier?«
    »Ja, schon lange. Er sitzt bereits im Dom bei den Ehrengästen. Sie als Fotograf gehen bitte die Treppe hoch zur Orgelempore. Da haben Sie den besten Standpunkt. In fünf Minuten geht es los. Darf ich Sie in den Dom begleiten?«
    »Ich muss nur noch schnell auf die Toilette.«
    »Bitte die Tür ganz hinten.«
    Jonas macht sich frisch. Er zieht den Brief an Björn Engholm aus dem Unterhemd und steckt ihn in die Innentasche seines Jacketts.
    Durch einen noch engeren Korridor, der von zwei lückenlosen Polizistenketten gebildet wird, schreitet Jonas in den Dom und geht die Treppe hinauf zur Orgelempore. Dort sitzen mehrere Journalisten mit Notizblöcken auf den Knien. Hinter der Brüstung haben zwei TV-Teams ihre Kameras aufgebaut. Auf einer klebt ein Aufkleber »ZDF«, auf der anderen steht »Aktuelle Kamera«. Dazwischen haben drei Fotografen ihre Kameras auf Stative gebaut. Er kennt niemanden von ihnen. Es sind Apparate der Marken Minolta und Nikon. Jonas ist sich nicht sicher, ob es Reporter aus dem Westen sind, denn er weiß, dass auch die SED-Presse aus Berlin und die DDR-Nachrichtenagentur ADN mit West-Kameras arbeiten. Er vermeidet jedes Gespräch mit den Kollegen.
    Während die Orgel einsetzt, baut Jonas leise sein Stativ auf und befestigt die Kamera. Er sieht ins Okular und fokussiert das Objektiv auf die Kanzel. In diesem Moment wird er von hinten angetippt. Jonas denkt an seinen Brief an Engholm. Wenn sie ihn hier verhaften, hätte er furchtbar schlechte Karten. Die Orgel wird lauter. Ganz langsam dreht Jonas sich um.
    Hinter ihm steht sein ehemaliger Chefredakteur. Wie immer trägt er seine rote Fliege. Beide sehen sich mit großen Augen an. Der Chef liest das Akkreditierungsschildchen an Jonas'   Jackett. Einen Moment lang bleibt ihm der Mund offen stehen.
    »Mein Gott, Jonas. Bist du schon im Westen?«
    In dem Augenblick betreten die Ehrengäste den Dom - allen voran Erich Honecker und Bischof Gienke. Man erhebt sich von den Plätzen. Jonas ist froh, dass er nicht antworten kann, weil er jetzt fotografieren muss. Durch seine Spiegelreflexkamera sieht er, dass im Tross der Ehrengäste auch Björn Engholm geht. Die SED-Prominenz nimmt vor dem Altar Platz, für Engholm und sein Gefolge ist eine Stuhlreihe rechts vom Altar reserviert.
    In den anderthalb Stunden, die die Domweihe dauert, macht Jonas alle Aufnahmen, die sein Auftraggeber bestellt hat. Nach dem Festgottesdienst führen der Bischof und Honecker den Tross der Prominenten wieder aus dem Gotteshaus. Auf keinen Fall darf er jetzt Engholm verpassen. Jonas hastet die Treppe von der Orgelempore hinab und stellt sich neben eine Säule im Hauptschiff. Honecker geht in einem halben Meter Abstand an ihm vorüber. Die Stasi-Gläubigen folgen dem Pulk.
    Das ist die Gelegenheit. Jonas eilt in Richtung Altar und sieht den in Gedanken versunken Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein in einer Bankreihe sitzen.
    »Guten Tag, Herr Engholm. Ich möchte Sie bitten, diesen Brief an sich zu nehmen und gut zu verwahren.«
    Engholm steckt den Brief sofort in die Innentasche seiner Jacke.
    »Von wem ist der Brief?«
    »Von mir. Darin bitte ich Sie um Unterstützung meines Ausreiseersuchens.«
    »Ich kann Ihnen nichts versprechen.«
    »Bitte tun Sie, was in Ihrer Macht liegt, Herr Ministerpräsident.«
    »Sie haben heute fotografiert?«
    »Ja.«
    »Bitte senden Sie mir ein paar schöne Abzüge an meine Staatskanzlei. Und schreiben Sie mir dazu eine Rechnung.«
    Engholm überreicht eine Visitenkarte und verabschiedet sich.
    Jonas verspürt in sich eine Leere, als er als Letzter den Dom ver-lässt. Er macht noch ein paar Außenaufnahmen vom Gebäude. Dann geht er ins Gemeindehaus, wo Detlef Fliege schon auf ihn wartet. Sie setzen sich in eine stille Ecke und lassen sich Kaffee servieren. Jonas überreicht drei belichtete Orwo-Filme NP27 und sagt: »Alle von Ihnen gewünschten Motive sind auf diesen Filmen.«
    Fliege schiebt ihm einen geschlossenen Briefumschlag hin. »Darin sind dreihundert D-Mark. Bitte sehen Sie nicht nach und stecken Sie das Kuvert sofort weg. Sie müssen mir bitte noch die Quittung unterschreiben.«
    »Ich bedanke mich. Das ist ein kleines Vermögen.«
    »Herr Maler, bitte hören Sie mir jetzt genau zu.« Fliege flüstert, während er seinen Autoschlüssel in Jonas'
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