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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher
Autoren: Wim Westfield
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Tage vorher an und vereinbaren einen Termin. Aber Jonas hat kein Telefon. Er ist zwar Journalist, aber nicht bei der SED-Presse. Und Stasi-Spitzel ist er auch nicht. Also muss er aufs Telefon warten. Erst im vergangenen Monat, im Dezember 1988, hat er eine Mitteilung von der Deutschen Post bekommen, dass er aufgrund seines Dringlichkeitsantrages nur noch zwölf Jahre zu warten brauche. In der Redaktion gibt es auf fast jedem Schreibtisch ein Telefon, aber es ist den Redakteuren verboten, ins westliche Ausland zu telefonieren. Jonas will nichts riskieren, weil er vermutet, dass die Stasi alle Gespräche, die von der Redaktion aus in den Westen geführt werden, mitschneidet.
    Aber es gibt ja das Postamt. Kurz entschlossen fährt er zur Rostocker Hauptpost. Am Schalter für »Gespräche ins nichtsozialistische Ausland« steht er eine Viertelstunde an. Er muss einen kleinen grauen Vordruck ausfüllen mit seinem Namen und seiner Adresse sowie Bestimmungsland, Namen, Vornamen und Rufnummer des Empfängers.
    »Junger Mann, ich darf Sie nicht in die Warteliste aufnehmen, wenn Sie mir nicht verraten, wie die Frau Julia in West-Berlin mit Nachnamen heißt«, schnarrt die beleibte Postangestellte so laut, dass man es auch in der allerletzten Ecke des Warteraums hören muss. Jonas schreibt schnell seinen eigenen Nachnamen, Maler, auf den Vordruck.
    »Ach so, Verwandtschaft ersten Grades«, schnauft die Postbeamtin beruhigt, aber immer noch so laut, dass es jeder verstehen kann.
    Jonas nickt stumm.
    »Sie sind die Nummer 21, merken Sie sich das, junger Mann. Dahinten ist die Schlange fürs Telefon nach'm Westen. Setzen Sie sich dort auf die Bank und warten `se.«
    »Entschuldigen Sie, wie lange kann das dauern, bis ich dran bin?«
    »Freitagnachmittag quatschen die alle länger. Da kann es passieren, dass wir nur drei Gespräche pro Stunde schaffen.«
    »Dann wäre ich ja erst abends um sieben dran. Aber die Post schließt doch schon um sechs.«
    »Selbstverständlich schließen wir pünktlich. Aber keine Sorge, die Stunden, die Sie heute schon gewartet haben, werden Ihnen morgen früh angerechnet.«
    »Das ist ja wie im Mittelalter«, beschwert sich Jonas. »In der Zeit bin ich ja schneller in West-Berlin.«
    »Nu werd'n Se mal nich frech, junger Mann! Wir geb'n hier alle unser Bestes. Und wie Sie so schnell nach West-Berlin komm' woll'n, das müssen Sie mir erst mal verrat'n!«
    Jonas antwortet nichts darauf und verschwindet so schnell wie möglich aus der Post. Er hat ein Gefühl, als würden ihn hundert Augenpaare beobachten. Um sicher zu sein, dass ihm niemand folgt, geht er nicht direkt zu seinem Auto, sondern in den Porzellanladen gleich neben der Post. Durch eine Glasvitrine beobachtet er, wer das Postgebäude verlässt. Erst als er sich sicher fühlt, dass er nicht observiert wird, setzt er sich in sein Auto, startet und fährt zügig durch Rostock in Richtung Autobahn.
    Während der Fahrt überlegt er, wie er mit Julia Kontakt aufnehmen kann. In Berlin lässt sich vieles leichter bewerkstelligen, was in der Provinz kompliziert ist oder Aufsehen erregt, zum Beispiel Telefonate ins westliche Ausland. Außerdem hat er noch seinen Kumpel Fred. Der geht zwar keiner offiziellen Arbeit nach, repariert stattdessen Motorräder, hat aber eine Wohnung mit Telefon. Fred wird ihm sicher helfen.
    An der einzigen Tankstelle bei Wittstock tankt Jonas, kontrolliert den Ölstand und kippt eine kleine Flasche Graphitöl zum Motorenöl. Der Motor, speziell die Kolbenringe und Zylinder, sind so weit ausgeschlagen, dass sie nicht mehr ausreichend verdichten. Mit einem Schluck Graphitöl pro Tankfüllung erreicht der Motor wieder annähernd die ursprüngliche Leistung.
    Hinter der Tankstelle liegen ein Parkplatz und ein »Intershop für Transitreisende«. Jonas parkt seinen Lada zwischen einem Mercedes und einem BMW. Aus dem BMW steigen zwei dicke junge Männer in schicken Lederjacken, sie unterhalten sich in breitestem bayerischen Dialekt.
    Jonas betritt selbstbewusst den Intershop. Stolze fünf West-Mark besitzt er, für ihn ein kleines Vermögen. Lange genug hat er es spazieren getragen. Er sieht die riesigen lila Weihnachtsmänner. So einen hatte sich seine Tochter gewünscht. Doch nun ist Weihnachten vorbei. Schließlich legt er eine große Milka-Tafel für die Tochter in den Korb und für sich eine leere Tonbandkassette. 240 Minuten Laufzeit hat die West-Kassette, Wahnsinn! Wie viel Pink Floyd da drauf passt!
    »Macht genau fünf
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