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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher
Autoren: Wim Westfield
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folgt der einzigen neuen Fußspur in Richtung Ruine und geht zu dem Fenster, von dem aus die geheime Treppe nach oben führt. War sie heute früh im Dunkeln allein dort oben? Das erste fahle Licht des neuen Tages zeigt die Spuren von gestern. Aber da ist auch eine ganz frische Spur. Sie muss vor kurzem hier gewesen sein.
    Jonas klettert über die Treppe in der Wand auf die Mauer des Klosters. Oben sieht er noch die Abdrücke ihrer gemeinsamen Nacht im Schnee.
    »J-u-1-i-aaa!«, schreit er in den Wintermorgen. Niemand antwortet.
    Sein Blick fällt auf einen roten Backstein genau dort, wo sie gelegen haben. Der Stein war gestern nicht da. Er hebt ihn an und findet darunter eine Plastiktüte mit dem Aufdruck »Interhotel -Frühstückspaket für frühzeitig abreisende Gäste«.
    Er öffnet die Tüte. Darin liegt ein Briefumschlag mit der Aufschrift »Für Jonas«. Er spürt sein Herz laut klopfen, als er das Kuvert öffnet.
     
    Mein Prinz!
    Ich habe die ganze Nacht auf Dich gewartet. Habe immer zum Fenster geschaut, ob Du kommst. Ich will Dich wiedersehen! Heute um fünf Uhr weckte mich die Rezeption. Ein Mann for
derte mich auf, bis spätestens um sechs das Hotel zu verlassen.
Man hat mir gesagt, dass ich die Fähre um zehn von Saßnitz nach
Trelleborg nehmen müsse, sonst würde ich gegen die Transitbe
stimmungen verstoßen und dürfe nicht wieder einreisen. Gleich
danach haben sie mir ein Frühstückspaket aufs Zimmer gebracht.
Ich bin verzweifelt, weil ich lieber geblieben wäre, um Dich noch
einmal zu sehen.
    Bitte ruf mich im neuen fahr in West-Berlin an.
    Telefon: 030-3169$ 10.
    Deine Julia
    P. $.: Was ist das für ein Land, in dem Du lebst?
     

Kapitel 5
    Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr geht Jonas wie gewohnt gegen zehn Uhr in die Zeitungsredaktion. Das Verlagshaus liegt im Stadtzentrum von Rostock in der Kröpeliner Straße, wo die Lokalredaktion zwei kleine Räume hat. Die bunten Tapeten sind von Tausenden Zigaretten vergilbt, das Mobiliar besteht aus alten Holzschreibtischen, auf denen noch ältere Schreibmaschinen und klobige schwarze Telefone mit Wählscheiben thronen. Hier produzieren drei Lokalredakteure an sechs Tagen in der Woche j e eine Lokal- und eine Bezirksseite der Zeitung »Der Demokrat«, dem Bezirksorgan der CDU.
    Jonas findet auf seinem Schreibtisch einen von Hand geschriebenen Zettel seiner Kollegen: »Sind Zigaretten holen. Gruß, Manfred und Micha.«
    Er weiß genau, was diese Floskel bedeutet. Er geht ins Sekretariat und fragt nach dem Chefredakteur.
    »Der ist Zigaretten holen.«
    Jonas hat keine Lust, allein zu arbeiten, und sagt der Sekretärin: »Ich geh dann auch mal Zigaretten holen.«
    Genau gegenüber der Redaktion liegt die Rostocker Schnapsbrennerei. Im Erdgeschoss gibt es ein billiges Lokal mit betoniertem Fußboden, Stühlen aus Alurohr und Tischen ohne Tischdecke. Hier wird der frisch aus der Destille kommende Fusel ausgeschenkt. Kurz nach zehn betritt Jonas die verräucherte Kneipe. Wie erwartet, sitzen an einem der hinteren Tische Micha und Manfred sowie der kleine Chefredakteur mit der großen roten Fliege. Vor ihnen steht ein Tablett voller Gläser mit Rostocker Doppelkorn.
    »Setz dich, Jonas«, sagt sein Chefredakteur. »Lass uns auf ein erfolgreiches neues Jahr anstoßen.« Er schiebt ihm ein Glas Doppelkorn zu.
    »Also, auf ein gesundes Neues!«, sagt der Chef, hebt das Glas und stößt mit den Kollegen an. »Und dass bitte bei euch kein falscher Eindruck entsteht. Heute ist eine Ausnahme, weil das neue Jahr anfängt. Ab morgen werde ich dann, wie mehrfach angedroht, durchsetzen, dass die Sauferei während der Arbeitszeit aufhört.«
    »Chef, das kann nicht dein Ernst sein«, entgegnet Micha.
    »Und wie ernst ich das meine«, erwidert der Chefredakteur. »Wer künftig beim Saufen erwischt wird, dem wird das Gehalt gekürzt.«
    Manfred verteilt die Schnapsgläser vom Tablett und sagt gelassen: »Chef, dann beantrage ich jetzt offiziell, dass du mein Gehalt gleich prophylaktisch kürzt, denn ohne Stoff kann ich den Schwachsinn nicht ertragen.«
    Sie lachen und bestellen eine neue Runde. Jonas verabschiedet sich. Er verträgt morgens keinen Schnaps.
    »Und fang schon mal an, ein paar Meldungen zusammenzu-klauen«, ruft ihm Manfred hinterher.
    Jonas geht ins Redaktionssekretariat und holt sich die jüngsten Ausgaben der »Ostsee-Zeitung«. Auf den Lokalseiten des SED-Organs sucht er nach Meldungen, die er umschreiben und ins eigene Blatt rücken kann. Eine bessere
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