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Nur dieser eine Sommer

Nur dieser eine Sommer

Titel: Nur dieser eine Sommer
Autoren: Mary Alice Monroe
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der Schwelle stehen, die Decke an die Brust gepresst, und starrte zu Lovie hinüber, die reglos im Schaukelstuhl saß. Die Bibel lag am Boden.
    Unwillkürlich nahm Cara jede kleine Einzelheit ringsum wahr: die winzige Stelle vorn am Stuhl, wo die Farbe abblätterte, das Loch im Fliegengitter, etwa so groß wie ein Zehncentstück, eine im Luftzug flatternde Seite der Bibel, die zarte Rundung von Lovies Hand. Langsam schritt Cara auf ihre Mutter zu und ging neben ihr in die Knie. Lovies Hand fühlte sich noch warm an; zwischen den Fingern klemmte ein vergilbtes, gefaltetes Stück Papier. Cara nahm es und hielt es unter den goldenen Schein der Laterne. Es war ein Brief, verfasst in schöner, elegant geschwungener Handschrift.
    Meine geliebte Olivia
,
    ich trage es dir keineswegs nach, dass du unsere Verabredung nicht eingehalten hast. Niemand weiß besser als ich um die komplizierten Bindungen, die uns an unsere Verpflichtungen fesseln. Und doch gestehe ich gern, dass ich dein Kommen erhofft hatte. Die ganze Nacht wartete ich am Strandhaus, verborgen im Schutz der Dunkelheit, gleich einem Dieb, denn ein solcher war ich ja, hoffte ich doch, dich trotz aller Widrigkeiten entführen zu können.
    Nicht einen Augenblick zweifele ich daran, dass du mich liebtest und noch immer liebst. Doch du hast dich entschieden, und diese Entscheidung werde ich wie versprochen respektieren.
    Solltest du indes jemals deinen Schritt bedauern oder dein jetziges Leben, aus welchen Gründen auch immer, nicht länger ertragen können, dann wünsche ich dir, dass du die Freiheit wählst – auch wenn sie dich nicht zu mir führen sollte.
    Meine Liebe trägst du in dir. Nie wird ein neuer Tag erwachen und nie die Sonne hinter dem Horizont versinken, ohne dass ich an dich denke. Dass unser Verstand, nicht das Herz, oft unser Handeln bestimmt, muss ich wohl hinnehmen. Doch glaube ich, dass uns das Herz besser leitet als das Hirn.
    Wenn du also im Laufe der Zeit doch noch zu mir kommen möchtest, dann tu es ohne Zögern. Du sollst wissen, dass ich auf dich warte. Du wirst mein Herz auf ewig besitzen – und meine Liebe.
    Immer dein
    Russell
    Cara faltete den Brief zusammen, steckte ihn zwischen die dünnen, festen Seiten der Bibel und stand dann, das Buch fest an die Brust gedrückt, auf der Veranda. Sie schaute aufs Meer hinaus. Graue Schwaden schwebten über dem Wasser; vom Hafen her dröhnte das dumpfe, sonore Brüllen eines Nebelhorns, wieder und wieder, wie Trauergeläut einer Totenglocke.
    „Geh zu ihm, Mama!“ Cara liefen Tränen über die Wangen. „Du bist frei. Sorge dich nicht um uns. Ich kümmere mich um Toy, passe auf Palmer auf, reiche die Fackel weiter an Linnea und Cooper. Geh nur! Lass dich durch nichts und niemanden davon abhalten, deinem Herzen zu folgen.“
    Aus Anlass der Trauerfeier zu Ehren von Olivia Rutledge – Lovie für die, die sie liebten – war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Olivias Stammbaum hatte beträchtliche Ausmaße, und wenn man sich auch übers Jahr eher selten zu irgendwelchen Familienfesten einfand, so erschien die Familie bei Beerdigungen doch stets in voller Stärke. Brett und Toy wichen nicht von Caras Seite, während Flo und Miranda sich zur Gruppe der Schildkrötenmuttis gesellt hatten. Aus Atlanta waren Emmi und ihr Mann sowie die beiden Söhne angereist. Generationen von Schildkrötenschützern waren erschienen, um der Frau, die sich so unermüdlich um das Wohl der Loggerheads und der Umweltgruppen gesorgt hatte, die letzte Ehre zu erweisen. Zahlreiche Freunde aus Schultagen sowie entfernte Bekannte hatten sich ebenfalls eingefunden.
    Nach der Trauermesse stand Cara neben Julia im hinteren Kirchenschiff und nahm bewegt die Beileidsbekundungen entgegen. Die ganze Zeit über beobachtete sie dabei ihren Bruder. Zusammengesunken saß Palmer in der ersten Reihe, die Augen verweint, die Gesichtshaut fleckig, und starrte den Sarg an, als könne er alles noch immer nicht fassen. Er wirkte wie jemand, auf den geschossen worden war und der jeden Moment unter der Wucht des Geschosses zusammensacken musste.
    In diesem Zustand befand er sich jetzt schon, seit Cara ihm die Todesnachricht telefonisch übermittelt hatte. Eigentlich war sie auf einen Tobsuchtsanfall gefasst gewesen, hatte damit gerechnet, dass er sie auf schneidende Art und Weise für Lovies frühen Tod verantwortlich machen würde, weil sie die Insel nicht früh genug verlassen hatten. Doch nichts dergleichen: Er war viel zu
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