Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
Vom Netzwerk:
frischem Pulverschnee. Gleichzeitig waren die Temperaturen in den Keller gefallen: Das Thermometer auf dem Armaturenbrett zeigte minus zweiundzwanzig Grad an.
    Der Sattelzug erzitterte, und sie packte den Handgriff über der Tür. Dreißig Kilometer. Bei ihrer gegenwärtigen Geschwindigkeit noch mehr als eine halbe Stunde.
    Sie starrte auf das GPS auf dem Armaturenbrett. Sie war an das Navigationsgerät in ihrem eigenen Wagen gewöhnt, auf dessen Bildschirm es vor Straßen, Highways und Orientierungspunkten nur so wimmelte, wenn sie in der Gegend von Lexington, Woburn und Boston unterwegs war. Doch das GPS in Carradines Sattelschlepper war vollkommen leer: ein Bildschirm mit nichts darauf als einer Richtungsangabe und einer sich ständig ändernden Koordinatenanzeige, der einzige Hinweis, dass sie überhaupt vom Fleck kamen.
    «Sie sehen müde aus», sagte Carradine. «Warum versuchen Sie nicht ein wenig zu schlafen?»
    «Das soll wohl ein Witz sein», entgegnete sie. Und doch – die angespannte, scheinbar endlose Wachsamkeit – gleich im Anschluss an die zahlreichen schlaflosen Stunden in FearBase – hatten sie erschöpft. Sie schloss die Augen, um für einen Moment – nur einen kurzen Moment – auszuruhen. Als sie sie wieder öffnete, hatte sich alles verändert. Der Himmel war heller, der Schnee ringsum funkelte im ersten Sonnenlicht, und das Geräusch des Motors klang anders: Die Drehzahl war geringer, die Geschwindigkeit merklich gefallen.
    «Wie lange war ich weg?», fragte sie.
    «Eine Viertelstunde.»
    «Wie viel Sprit noch?»
    Carradine sah auf das Instrument. «Wir fahren trocken.»
    Der Sattelzug wurde immer langsamer. Penny warf einen Blick auf das GPS, und auch dort hatte sich etwas verändert: Ein Band aus gleichförmigem Blau nahm die gesamte obere Hälfte des Bildschirms ein.
    «Ist das etwa noch ein …?», begann sie und verstummte.
    «Jepp. Gunner Lake.»
    Die Angst, die zwischenzeitlich zu einem dumpfen Gefühl von nervöser Besorgnis abgeklungen war, erwachte von neuem. «Hatten Sie nicht gesagt, wir müssten nur einen See überqueren?»
    «Hab ich. Aber wir haben nicht mehr genügend Treibstoff, um diesen hier zu umfahren.»
    Penny schwieg. Sie schluckte mühsam und leckte sich die Lippen. Ihr Mund fühlte sich sehr trocken an.
    «Keine Sorge», sagte Carradine. «Der Gunner Lake ist zwar sehr lang, aber nicht besonders breit.»
    Sie sah ihn an. «Warum hatten Sie dann zuerst vor, ihn zu umfahren?»
    Carradine zögerte kurz. «Der See ist nur zehn, fünfzehn Meter tief, aber er ist übersät mit großen Felsbrocken, Findlingen aus der Eiszeit und dergleichen, die unter der Schneedeckemanchmal schwer zu erkennen sind. Wenn wir einen übersehen und dagegenkrachen …»
    Er beendete den Satz nicht. Das war auch nicht nötig.
    Sie sah durch die Windschutzscheibe nach vorn. Der See war jetzt deutlich zu erkennen. Er lag genau vor ihnen. Carradine schaltete die Gänge herunter, als sie sich dem Ufer näherten.
    «Wollen Sie nicht anhalten?», fragte Penny. «Kontrollieren, wie dick das Eis ist?»
    «Keine Zeit», entgegnete der Trucker. «Nicht genug Sprit.»
    Sie krochen auf das Eis hinaus. Wieder einmal umklammerte Penny den Haltegriff über der Tür, so fest sie konnte, als sie spürte, wie sich das Eis unter dem Gewicht des Sattelzugs durchbog und wie das furchtbare Knacken einsetzte und sich von den Rädern aus in alle Richtungen ausbreitete. Einige Felsbrocken waren deutlich zu erkennen; sie ragten wie Fänge aus der ebenen Schneedecke. Ihre schwarzen Oberseiten glänzten in der Morgensonne. Andere Felsen waren unter Schneewehen verborgen. Der Sturm hatte phantastische Gebilde aufgehäuft: Kämme und Hügel und kleine Berge. Carradine steuerte den Sattelzug behutsam über das Eis und wich sämtlichen sichtbaren und vermuteten Hindernissen in weitem Bogen aus. Penny starrte abwechselnd auf das GPS und die gefrorene Landschaft draußen. Sie sehnte den Moment herbei, an dem das andere Ufer wieder in Sicht kam.
    Drei Minuten vergingen, dann fünf. Das Knacken und Knistern wurde lauter, und Risse jagten in spastischem Zickzack vor ihnen her. Der Motor stotterte. Carradine ging behutsam vom Gas, und die Drehzahl normalisierte sich wieder. Penny Barbour malte sich aus, was passieren würde, falls der Motor hier draußen auf dem Eis ausging.
    «Wir sind fast da», sagte Carradine, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
    Vielleicht vierzig Meter voraus tauchte ein niedriger Kamm auf. Der Wind hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher