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Nullpunkt

Nullpunkt

Titel: Nullpunkt
Autoren: Lincoln Child
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schienen. «Ich gehe über die Schmerzgrenze. Hundertzwanzig Dezibel», rief Sully zurück.
    Der Mahlstrom aus Lärm zusammen mit dem Druckgefühl im Kopf trieb Marshall fast in den Wahnsinn. Die Kreatur wich einen Schritt zurück. Ihre Hinterläufe zuckten leicht, wie von unwillkürlichen Nervenimpulsen. Sie schüttelte den zottigen Schädel einmal, zweimal in offensichtlichem, schmerzerfülltem Unbehagen.
    «Jetzt nur die Sinuswelle!», rief Sully.
«Es funktioniert! Es funktioniert!»
    Und dann – urplötzlich – duckte sich die Kreatur und spannte sich zum Sprung.
    Ein Dutzend Dinge geschahen gleichzeitig. Phillips und Sully schrien gleichzeitig in angstvollem Entsetzen auf. Die Lautstärke aus der Apparatur stieg noch weiter an, während das Frequenzband breiter wurde. Gonzalez’ Feuerbefehl war kaum zu hören, und dann zischten plötzlich Kugeln über Marshalls Kopf hinweg und den Korridor entlang, prallten als Querschläger von den Wänden und den alten Maschinen. Marshall hob sein eigenes M-16 und drückte ab. Er sah, wie seine Kugeln einschlugen, wie sie die Kreatur durchbohrten, wie frische Chitinstreifen unter dem zottigen Pelz der Bestie erschienen, je mehr Fell die Geschosse wegrissen. Die Zeit selbst schien sich zu verlangsamen und die Realität zu verblassen.Marshall hatte das Gefühl, als könnte er jede einzelne Kugel sehen auf ihrem ebenso brachialen wie vergeblichen Flug den Korridor hinunter.
    Dann griff die Bestie an.
    Ungeachtet des wütenden Sperrfeuers aus den Waffen von Phillips und Gonzalez warf sich Marshall in einer verzweifelten Anstrengung, den Eingang zu verschließen, auf die Lukentür, doch die Kreatur bewegte sich mit schier unglaublicher Geschwindigkeit. In einem Herzschlag war sie durch die Luke hindurch und schleuderte Marshall achtlos beiseite. Er prallte schwer gegen die Wand und sank schlaff daran herab, Sterne vor den Augen. Der Schallgenerator kippte um, als die Kreatur darüber hinwegsetzte, Sully mit zielstrebiger Wildheit zwischen den Vorderpfoten packte und ihm mit zwei wilden Bissen die Arme aus den Schultern riss.

52
    Marshall stützte sich, benommen von der Wucht des Aufpralls, auf einen Ellbogen und sah hoch. Der zentrale Korridor des wissenschaftlichen Flügels hatte sich in ein Tollhaus aus Lärm und Gewalt verwandelt: die grässliche Bestie, die den wie besessen kreischenden Sully bei lebendigem Leib zerriss, Blut, das aus den zerfetzten Schultern des Klimatologen spritzte und Wände, Decke und Boden besudelte, Gonzalez und Phillips, die hastig zurückwichen in dem Bemühen, freies Schussfeld zu erhalten, der umgestürzte, auf der Seite liegende Karren mit der Schallwaffe, und der alte Schamane, der mit in ausgestreckten Händen vor sich einen Talismanhielt und mit drängender, schriller Stimme beschwörend auf die Kreatur einsang.
    Marshall beobachtete mit klingelnden Ohren, wie die Bestie den immer noch schreienden Sully in die Höhe schleuderte und ihm noch in der Luft mit einer Pfote einen Schlag versetzte, der den Wissenschaftler durch die Tür in das Empfangsbüro segeln ließ. Die Kreatur sprang ihm hinterher und verschwand aus dem Blick. Einen Sekundenbruchteil später brach im Büro ein gewaltiger Tumult los – das Krachen und Bersten von Mobiliar, der dumpfe Aufprall eines Körpers, der gegen Wände geworfen wurde. Sullys Schreie klangen abgehackt.
    Marshall versuchte sich auf die Beine zu stemmen. Stolpernd kam er hoch. Es war zu spät für Sully – er würde sterben. Sie würden alle sterben. Einen Moment lang fragte er sich, ob die Zeit reichte, um aus dem wissenschaftlichen Flügel zu fliehen, die Luke zu verschließen, bevor das Monster hinterherkam, doch er wischte den Gedanken schnell wieder beiseite. Die Zeit reichte nicht. Es war vorbei. Das Ding würde Sully töten, und dann würde es sich den Rest von ihnen schnappen, einen nach dem anderen, und …
    Sein Blick fiel auf die Schallwaffe, die in ihre Bestandteile zerfallen unordentlich auf dem Boden lag.
Und sie hat funktioniert, trotz allem
, dachte er. Die letzte Wellenform, die Sully ausprobiert hatte – die Sinuswelle – sie hatte der Kreatur eindeutig wehgetan.
    Er versuchte den wilden Lärm aus seinen Gedanken zu verdrängen, die Schreie der Soldaten, den schmerzenden Druck in seinem Kopf, und sich zu konzentrieren, zu überlegen in den wenigen Sekunden, die ihm noch blieben. Warum hatteeine Sinuswelle funktioniert und eine Sägezahn- und eine Rechteckwelle nicht?
    Er hielt inne.
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