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Novemberrot

Novemberrot

Titel: Novemberrot
Autoren: Markus Theisen
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Müdigkeit doch letztlich zu groß und er begab sich widerstrebend in sein verhasstes Heim. Dort angekommen zündete er in der Küche eine Kerze an, da der elektrische Strom natürlich noch abgeschaltet war. Und nachdem er ein Stück trockenes Brot und Schinken mit einer Flasche Bier heruntergespült hatte, legte er sich erschöpft auf das staubige Sofa im Wohnzimmer. Da auch kein Brennholz zum Heizen vorhanden war, behielt er seine Kleidung weitestgehend an. Er entledigte sich nur seiner schweren, unbequemen Stiefel. Bergheim schlief zwar direkt ein, hatte jedoch eine von Alpträumen geplagte, unruhige Nacht. Er wachte ständig schweißgebadet auf und beeinflusst von den schmerzlichen Geschehnissen der letzten Stunden marterten wirre Gedanken seinen ohnehin schon arg strapazierten Verstand immer wieder aufs Neue: »Wie soll es bloß weitergehen? Ich wäre besser im Krieg gefallen! Ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufbringen kann, diesen Kampf durchzustehen … aber ich muss, ich muss einfach … schließlich ist es doch meine Familie … und Heinrich hat doch versprochen mir zu helfen … zu helfen …« Gegen fünf Uhr morgens konnte er nicht mehr schlafen. Er ging aus dem Haus und lief zunächst ziellos im Dorf umher. Es war noch stockfinster um die Uhrzeit und die wenigen gasbetriebenen Laternen beleuchteten die Straßen nur schwach. Die Hauptstraßenkreuzung des Ortes, an der unter anderem auch der Weg aus Mayberg hinaus in Richtung St. Josef führte, wurde durch eine in etwa fünf Metern Höhe mit vier Stahlseilen an angrenzenden Häusern befestigten elektrischen Lampe erhellt. Dunst umwaberte zu dieser Stunde ihr spärliches, weißes Licht. Die kühle Morgenluft sorgte dafür, dass Bergheim nach einiger Zeit wieder klare Gedanken fassen konnte. Sein Weg führte ihn nun direkt zum in der Mitte des Dorfes neben der Kirche gelegenen Friedhof. Die Kirche wurde in den Kriegswirren nicht zerstört und ihr stolzer Turm ragte trotzig in den frühmorgendlichen Himmel. Um zu den Grabstätten zu gelangen, musste man zunächst den Kirchvorplatz überqueren und folgte dann einem circa fünfzig Meter langen, von schmalen Birken gesäumten Pfad. Michael ging geradewegs zum Grab seiner Eltern, die bereits einige Jahre vor Ausbruch des Krieges verstorben waren. Seine Mutter fiel einer heimtückischen Krankheit zum Opfer und sein Vater, der den Tod der geliebten Frau nie überwinden konnte, stürzte sich wenige Monate später in einem der nahegelegenen Steinbrüche zu Tode. Als Michael und Maria im Mai 1935 heirateten, war von der Krankheit der Mutter noch nichts zu erkennen, doch nur ein Jahr später ging dann plötzlich alles ganz schnell. In der Morgendämmerung ruhte Bergheims Blick auf dem Grabstein seiner Eltern, während er leise betete. Anschließend nickte er zum Abschied leicht mit seinem Kopf, wandte sich ab und begab sich schnellen Schrittes nach Hause. Die Herbstsonne schickte ihre ersten zaghaften Strahlen durch die Nebelsuppe. Auf seinem Weg zurück bemerkte er, dass von seinem Heimatort, ausgenommen der Häuser, die sich in unmittelbarer Nähe der Gleise befanden, recht wenig zerstört worden war. Zum Glück erschien das kleine Dörfchen den Angreifern wohl als strategisch eher unbedeutend. Vor einer etwas von der Dorfstraße zurückliegenden, größeren Scheune standen einige Fahrzeuge der französischen Armee. Am Eingangstor hielten zwei Soldaten ihre Gewehre schulternd Wache. Sein Nachbar Elzer erzählte ihm später, dass sich die Amerikaner bereits im Juni 45 bis auf wenige Stützpunkte in der Umgebung vollständig zurückgezogen und an deren Stelle die Franzosen seitdem ihr Quartier aufgeschlagen hatten .
    » Die sind nicht übel. Es gibt keine Probleme mit ihnen, ganz im Gegenteil. Die Kinder bekommen oft Schokolade und Weißbrot von ihnen. Und einige Mädels aus dem Dorf gehen nicht nur zum Kaffeetrinken zu den Soldaten, wenn du verstehst was ich meine«, fügte Elzer noch mit einem Augenzwinkern hinzu. Michael hatte zwar zunächst gelächelt, doch dann verfinsterte sich sein Gesicht in rasantem Tempo. Da sein Nachbar ahnte, welche Gedanken dem Heimkehrer durch den Kopf jagten, ergriff er direkt wieder das Wort und beruhigte ihn: »Viele Mädels gehen dort hin; aber nicht Maria, du kannst mir glauben.« Michael wirkte erleichtert und ließ das Thema, aufgrund Elzers Aussage, damit auf sich beruhen.
    In den folgenden Tagen durchforstete Bergheim sein Haus und prüfte, was ihm geblieben war. Das meiste
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