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Novemberasche

Titel: Novemberasche
Autoren: dtv
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Fensterfront und sah hinaus. Von hier
     aus konnte man den halben See überblicken, so weit, bis sich der Blick in der Ferne verlor. Ganz links sah man den Pfänder,
     darunter Lindau, das im Nebel steckte wie eine Geisterstadt, und direkt unter ihm verschmolzen die Silhouette der alten Bäume
     und Häuser, die das Ufer wie eine Borte säumten, mit dem blaugrauen Dunst. Dort unten in Nonnenhorn wohnte Pfefferberg, ein
     wohlhabender Mann, der im Besitz diverser Häuser war. Er hatte ihn unlängst bei den Ermittlungen in Maries Fall kennengelernt
     und der Mann hatte Sommerkorn angeboten, ihm bei der Suche nach einer neuen Bleibe behilflich zu sein. Pfefferberg selbst
     bewohnte die altehrwürdigeVilla neben dem Nonnenstein, und Sommerkorn hatte ihn einmal dort besucht. Was für ein friedlicher Anblick, die Welt eingesponnen
     in einen Dornröschenschlaf, ging es Sommerkorn durch den Kopf. Die Stille hier oben, hinter der überdimensionalen Glasfront
     schien grenzenlos.
    Sommerkorn hörte ein Geräusch, die Tür wurde geöffnet, und Irene Martìn betrat den Raum. Es war auf den ersten Blick zu erkennen,
     dass sie es sein musste; die Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und ihr war verblüffend. Das gleiche makellose Gesicht, die gleichen
     fein geschwungenen Lippen, die hellleuchtenden Augen. Und die Blässe. Sie ist fast so blass wie ihr toter Sohn, dachte Sommerkorn.
     Aber irgendetwas an ihr passte nicht ins Bild, ohne dass Sommerkorn wusste, was es war. Wortlos ging sie auf ihn zu und wortlos
     streckte sie ihm die Hand entgegen.
    »Ich möchte Ihnen mein tiefes Beileid aussprechen«, sagte Sommerkorn und empfand seine Worte hilflos und hölzern, in der Gewissheit,
     dass nichts, was er hier sagte, in irgendeiner Form etwas ändern würde.
    Irene Martìn nickte stumm. Einen Augenblick lang standen sie sich gegenüber, bis von der Tür her erneut ein Geräusch zu hören
     war und Roberto Martìn den Raum betrat. Auch er reichte Sommerkorn die Hand und stellte sich ans Fenster. Wie Darsteller in
     einem Bühnenstück, schoss es Sommerkorn durch den Kopf. Sie betreten die Bühne und jeder stellt sich an den für ihn vorgesehenen
     Platz.
    »Haben Sie Neuigkeiten, Herr Kommissar?«
    Sommerkorn und Roberto Martìn waren sich zum ersten Mal begegnet, als er und Barbara den Mann zur Identifizierung des Jungen
     begleitet hatten. Bereits bei dieser Gelegenheit war Sommerkorn die absolute Beherrschtheit des Mannes aufgefallen. Martìn
     war um die fünfzig. Der perfekte Senior Manager im maßgefertigten Anzug in Arbeitgeberblau, und mit einem Gesicht, das auch
     jetzt soneutral wirkte, dass Sommerkorn wirklich nichts von ihm ablesen konnte. Wenn er diesen Mann bei einer Geschäftsbesprechung
     getroffen hätte, wäre der Ausdruck kein anderer gewesen.
    »Ja.« Sommerkorn nickte und beschloss, nicht lange drumherum zu reden. »Es gibt Erkenntnisse, über die ich mit Ihnen reden
     möchte.«
Muss
, dachte Sommerkorn. Ich möchte es eigentlich nicht.
    »Ihr Sohn ist nicht, wie zunächst angenommen, an der Überdosis eines Rauschmittels gestorben. Bei der Obduktion wurde festgestellt,
     dass er K.-o.-Tropfen im Blut hatte, und zwar eine erhebliche Dosis. Allein diese Dosis hätte vielleicht ausgereicht, ihn
     zu töten. Dazu ist es jedoch nicht gekommen: In den Atemwegen Ihres Sohnes haben wir Fasern gefunden, die leider keinen anderen
     Schluss zulassen, als dass er erstickt wurde.«
    Sommerkorn sah von Martìn zu dessen Frau, die beide regungslos verharrten. Wie von einem Zauber zu Stein verwandelt, dachte
     Sommerkorn. Dann sah er, wie Frau Martìn die Hände auf den Mund presste. Eine Weile lang sagte keiner ein Wort. Martìn schluckte
     hörbar, die Frau stand mit beiden Händen vor dem Mund da, als hätte ein grausamer Gott die Zeit angehalten. Die Stille wurde
     unwirklich.
    Irene Martìn brach schließlich das Schweigen: »Jemand hat ihn getötet?« Ihre Stimme war kaum vernehmbar, nur ein Flüstern.
    »Ja.«
    »Wer?«
    »Das versuchen wir herauszufinden.« Sommerkorn ließ einige Sekunden verstreichen, sah sich um. Die Villa der Martìns war,
     so konnte man wohl sagen, aus einem Guss und, wie Sommerkorn fand, übertrieben modern und ziemlich kahl eingerichtet. In dem
     großen luftigen Raum standenzwei ausladende graue Sofas im rechten Winkel zueinander, ein mit demselben Stoff bezogener Hocker brach die Symmetrie auf
     und stand schräg dazu vor einem Tisch aus Plexiglas. An einer Wand war ein Flachbildschirm von der
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