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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen
Autoren: Richard Swartz
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später, als alles schon vorbei war und nichts blieb, woran er sich gern erinnerte, sich fragte, ob nicht dieser Augenblick ihr allerglücklichster zusammen war, dieser Applaus und diese öffentliche Bestätigung dessen, was sie sonst wegmogeln mussten, was nur ein einziges Mal gezeigt werden konnte während eines kurzen gemeinsamen Spaziergangs auf einem roten Teppich, ausgerollt vor der Wiener Staatsoper für jemand ganz anderen als sie selbst.
    Der Anwalt war klein und gedrungen, mit einem Gesicht wie ein gesprungener Teller. Der Mann war enttäuscht; wie ein Auktionator oder Pastor wandte der Anwalt immer den Blick nach oben, wenn er etwas sagte. Zum Rivalen taugte er nicht. Der Anwalt klopfte dem Mann auf den Rücken und schüttelte ihm lange die Hand, so dass der Mann spürte, wie kurz die Finger des Anwalts waren, wie energisch er versuchte, sie länger wirken zu lassen; meine Marta hat so kolossal viel Nettes über Ihre Frau erzählt, und jetzt habe ich ja das Vergnügen, auch Sie kennenzulernen, sagte er und zog ein Taschentuch aus der Tasche, mit dem er sich das Gesicht abwischte, man konnte sehen, dass es aus feinster Seide war und wie weich es um die kurzen Finger fiel, als wäre das Taschentuch extra für diese Anwaltshand genäht worden, und ohne Rücksicht auf das Programm des Abends brachte er sofort Wagner zur Sprache, um seine Kunst unmittelbar als unzeitgemäß und lärmend abzutun, jedes Mal, wenn es Zeit für Die Walküre ist, sehe ich zu, eine geschäftliche Verpflichtung so weit wie möglich von Wien entfernt zu haben, sagte der Anwalt mit seinem Gesicht nah an dem des Mannes; und im Schein der Kandelaber im Foyer konnte der Mann sehen, wie ein feines Netz geplatzter Äderchen sich von Nase und Kinn über dieses Anwaltsgesicht ausgebreitet hatte, das aus der Nähe eher krakeliert wirkte als gesprungen, eine Art Missgeschick, das wohl eher durch Ausschweifungen als durch Gewissensbisse hineingeritzt worden war, aber bevor der Anwalt die große Nachfrage für juristische Beratung in der Provinz erläutern konnte und den Mangel daran, sobald man sich von Wien entfernte, katastrophal schon in einer Stadt wie St. Pölten, läutete es zum ersten Akt.
    Der Anwalt bot der Gattin des Mannes den Arm, um sie zu der Loge der Familie Berger im zweiten Rang zu führen, und auch damit hatte der Mann im Voraus gerechnet, als Mann von Welt würde der Anwalt sofort zu einer solchen Wiener Höflichkeit bereit sein, ohne irgendetwas Besonderes damit zu verbinden; diese Wiener Höflichkeit wurde jetzt auch der Gattin des Mannes und ihm selbst zuteil, ein dem Anwalt völlig fremdes und gleichgültiges Paar mit einem Abonnement weit hinten im Parkett; und dass die Gattin des Mannes es sein würde, die in der Gesellschaft des Anwalts als erste in den Genuss der Loge der Familie Berger kommen würde, war ebenso vorhersehbar wie dass der Mann zusammen mit der Gattin des Anwalts sie im nächsten Akt würde in Besitz nehmen können, was eingedenk der Handlung von Webers Oper genau das war, worauf der Mann die ganze Zeit gehofft hatte, und sein Plan schien aufzugehen.
    Es klingelte ein zweites Mal, und ehe man sich trennte, nahm der Anwalt den Mann beiseite, als wären sie schon vertraut, und flüsterte ihm ins Ohr, dass ein Werk wie Der Freischütz eigentlich eine Unverschämtheit gegenüber erwachsenen Menschen sei, die sich auf Musik verstehen, meinen letzten Freischütz muss ich als Schuljunge erlebt haben, sagte er, obwohl man zugeben müsse, dass Weber nicht so infernalisch lärmend sei wie Wagner, aber dass der Anwalt gegen seinen Willen doch bereit war, eine ganze Vorstellung für Schulkinder durchzustehen und sich dem strikten Zeremoniell der Höflichkeit untergeordnet hatte, machte ihn in den Augen des Mannes noch mehr zum Mitschuldigen, jedenfalls hatte es sein Verlangen nach dessen Gattin noch weiter gesteigert, und in der Tasche knetete der Mann ihr Höschen, aus einer Seide so weich und glatt wie das Taschentuch des Anwalts, so wie alles bei der Familie Berger von feinster Qualität zu sein schien, und zufrieden plappernd trippelte der Anwalt mit der Gattin des Mannes am Arm auf seinen dünnen Beinen zur Treppe.
    Die kleinste Höflichkeit, und schon ist man zum Mitschuldigen geworden!
    Und von der Loge der Familie Berger im zweiten Rang herab winkte der Anwalt seiner Gattin unten im Parkett zu, auch die Gattin des Mannes winkte, und vom Parkett aus wurde zurückgewinkt.
    Bald würde sich die große Dunkelheit
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