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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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Umschlag bitte persönlich an folgende Adresse in der Stadt:

    Haus der Verlorenen
    Weberstraße 9c

    Um alles weitere, Beerdigung, Kosten und so Ähnliches, wird man sich dort kümmern. Es sind gute Freunde von mir, die mir sehr geholfen haben. Wenn mein Tod einen Sinn haben soll, ist es unbedingt nötig, dass dieser Umschlag seine Empfänger erreicht.

    Du darfst mich nicht vergessen - niemals
    Ich werde irgendwo auf dich warten

    Dein Jens

    Mir wurde klar, dass ich seinen Tod vielleicht hätte verhindern können, hätte ich diesen Brief nur eher gelesen. Aber andererseits wer wusste das schon, vielleicht hätte ich trotzdem nichts tun können. Wahrscheinlich war alles nur eine Frage der Zeit gewesen. Was mich ebenso erschaudern ließ, war der Gedanke, dass Jens nach meinem eigenen Tod irgendwo im Jenseits auf mich warten könnte. Und das dann für alle Ewigkeit! Was, wenn er alle Geister da oben oder da unten davon überzeugte, wie sehr wir seiner Meinung nach zusammengehörten? Egal wo, selbst der Himmel würde mir zur Hölle werden, wenn ich Jens in der Endlosigkeit begleiten müsste; mein Geist gefesselt an seinen Geist.
    Ich versuchte, solche Gedanken zu verdrängen und sachlich zu bleiben.
    Jens' Vorbereitungen zu seinem Selbstmord stellten sich wie ein regelrechter Plan dar. Das muss man erst einmal nachvollziehen! Jens verabredete sich mit mir, stimmte unseren Weg durch die Stadt zeitlich ab und sprang, minutiös geplant, von der Brücke – nicht, ohne mir vorher eine Botschaft zu übermitteln. Er sprang vor ein Auto in den Tod. Vor Marcs Auto. Marc – unser gemeinsamer Schulfreund – auch er spielte eine Rolle in Jens' Plan. Warum? Ich musste unbedingt Kontakt zu ihm aufnehmen. Noch heute wollte ich ihn anrufen und Licht in den dunklen gestrigen Tag bringen. Marcs Nummer musste ich noch irgendwo haben, obwohl wir uns seit mindestens zwei Jahren nicht mehr getroffen hatten. Nicht allein deshalb, weil ich seit geraumer Zeit kaum noch jemanden in meine Wohnung ließ.
    Es kostete mich einige Überwindung, Jens' verschlossenen Umschlag, der seinem Abschiedsbrief beigefügt lag, nicht einfach zu öffnen. Haus der Verlorenen – das klang wie ein Heim für Obdachlose oder verlorene Seelen. Ich versuchte, durch den Umschlag hindurchsehen, indem ich ihn gegen das Licht hielt. Zwecklos! Was tat ich hier eigentlich? Ich war im Begriff, den Wunsch eines verstorbenen Freundes respektlos zu übergehen. Ich hatte das Gefühl, Jens seinen letzten Wunsch erfüllen zu müssen und den Umschlag an den genannten Ort zu bringen. Und ich war neugierig. Wer verbarg sich hinter dieser seltsamen Einrichtung, von der ich noch nie etwas gehört hatte?
    Weberstraße – das lag irgendwo in diesen uralten Häuserblöcken der Stadtmitte, die ich sonst eher mied. Vom Stadtpark aus war es ein ganzes Stück bis zur City, aber ich brauchte sowieso frische Luft. Also stopfte ich den Brief in die Tasche zurück und ging los, überzeugt, das Richtige zu tun. Abseits des wilden Einkaufsrummels der Fußgängerzone und vorbei an den Junkies am Kopstadtplatz bog ich in die Weberstraße ein. Schon deshalb, weil dort keines der größeren Geschäfte seinen Sitz hat, erinnerten mich diese Straßen hier auch an diesem Tag an eine dunkle, verruchte Gegend. Ich rechnete mit den finstersten Gestalten und verdächtigte innerlich jeden, der mir begegnete, eines Verbrechens. Die Häuser waren alt, hoch, grau und teilweise mit Graffiti beschmiert. Was hatte Jens überhaupt in diese Gegend getrieben? Und was hatte er hier getrieben?
    Eher zufällig entdeckte ich von Weitem die Aufschrift hinter einem verdreckten Fenster: Treffpunkt Weberstraße 9c . Doch dieses Fenster gehörte zu einem leer stehenden Ladenlokal im Erdgeschoss. Nur zögerlich wagte ich mich an das alte Gebäude heran, mit dem Gefühl, dass sich diese Schritte auf mein weiteres Leben auswirken könnten und ich war mir nicht sicher, ob ich das wollte.
    Ein paar über Jahrzehnte hinweg ausgetretene Steinstufen führten mich zu einer massiven Haustür mit einem kleinen Vordach und einem gusseisernen Gitter vor einer längst blinden Glasscheibe. Ich drückte auf den verrosteten Klingelknopf für die erste Etage und wischte meinen Finger gleich danach an meiner Hose sauber. Weder ein Türschild noch eine sonstige Beschriftung deuteten darauf hin, wer hier wohnte.
    Es dauerte lange, bis der Summer ging und ich sah mich mehrfach um, weil ich jemanden hinter mir auf dem Gehweg vermutete. Mit
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