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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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reichte Jens bis zum Hals. Darüber ruhte sein Kopf und sein Gesicht war … schief! Es war verformt, so als hätte man ihn zertreten. Seine rechte Kieferseite war derartig geschwollen, dass das, was man als die Wange bezeichnet und das nun nicht im Mindesten danach aussah, blau und schwarz bis über das rechte Auge reichte. Sein unnatürlich zur Seite verschobenes Kinn machte aus seinem Mund eine Grimasse. Eine offene Wunde konnte ich nicht erkennen. Vielleicht hinten am Kopf? Oder bluten Tote nicht mehr? Hätte Jens gedacht, dass sein Gesicht so entstellt sein würde nach seinem Sprung?
    Ich hätte ihn umarmen sollen, ungeachtet seines schockierenden Aussehens, ihn drücken, wenigstens streicheln, ein letztes Mal. Stattdessen zog ich meine eben noch ausgestreckte Hand zurück und ließ ihn kalt liegen. So schnell ging es also, dass aus Jens ein Toter für mich wurde, den anzufassen ich zögerte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, schäme ich mich dafür.
    Der Arzt sprach mich an. Jemand sollte Jens' Angehörige informieren.
    »Sicher«, sagte ich nur.
    Danach ging ich mindestens drei Stunden spazieren, zu Fuß bis in den Stadtgarten. Hier lief ich eine flache, breitstufige Treppe hinab. Eine von denen, die zwei oder drei Schritte pro Stufe verlangen, bevor man die nächste erreicht. Die Treppe führte tief in den Park hinein. Lichtspiele auf einer alten Mauer blendeten mich, bevor ich ganz in den Schatten eintrat. Ein Wegstück weiter setzte ich mich auf diese graue kalte Bank, die vor drei Jahren mein Schicksal besiegelt hatte. Ab und zu schloss ich die Augen und lauschte der Umwelt. Man konnte Vögel hören und von Weitem die Fahrgeräusche der Autos. Rollläden wurden hochgezogen. In einem nahe liegenden Haus öffnete jemand ein Fenster. Geschirr klimperte und Kinderstimmen wehten herüber.
    Überall war dieses zufriedene Leben der anderen, das unerschüttert weiterging.
    In meine Nase stieg der Geruch sich aufwärmenden, feuchten Rindenmulchs, leicht süßlich und leicht säuerlich-modrig. Für mich roch es nach Tod.
    Hier hatte ich mit Jens gesessen, damals, vor drei Jahren. Ich erinnerte mich an seinen Redeschwall über seine katastrophale Kindheit und all die völlig übertriebenen Ängste. Ich hatte ihn nicht wirklich verstanden an jenem Tag, war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Aber seine Einsamkeit, die meiner eigenen glich, die hatte ich begriffen. Wir hatten fast schon zu viel gemeinsam. Ich glaube, genau deswegen konnte das mit uns nicht gut gehen. Das war der Tag, an dem ich eine Beziehung zu ihm eingegangen war und ich weiß heute, ein guter Funken Mitleid und ein ebenso dicker Funken Selbstmitleid hatten ihren Teil dazu beigetragen.
    Meine Finger erwischten beim Graben in den Jackentaschen den noch immer ungelesenen Brief von gestern. Der Umschlag war längst zerknittert und ich wunderte mich erneut über die einfache Anschrift › An Sarah‹ in Druckbuchstaben und den fehlenden Absender. Wie viel Trägheit meinen Körper beherrschte, zeigte sich in meinem Bemühen, den Absender und den Inhalt des Briefes zu erraten, bevor ich ihn öffnete.
    In dem Briefkuvert steckte ein weiterer verschlossener Umschlag und ein beschriebenes Blatt aus Rechenpapier. Gleich beim Auseinanderfalten erkannte ich die spitze und ständig unterbrochene Handschrift von Jens. Und dieser Brief schmachtete seit fast zwei Tagen bei mir Zuhause in der Jackentasche! Sogar schon vor unserem Treffen in der Stadt.
    Bedenkt man, welche Schritte Jens ankündigte, lasen sich seine Worte fast sachlich. Genau genommen war es auch keine Ankündigung, sondern viel mehr eine Verabschiedung.

    Liebe Sarah,

    ich weiß nicht, ob du mir überhaupt nachtrauerst. Ich glaube, eher nicht. Aber das ist jetzt egal.
    Auch wenn wir häufig Probleme miteinander hatten, unsere Beziehung leider nicht von Dauer so eng sein konnte, wie ich es mir gewünscht hätte (du meinst ja, es lag an mir): Du warst die einzige Frau, die ich je liebte.
    Ich habe inzwischen verstanden, dass du mich nicht mehr brauchst und das ist auch gut so. Ab heute halte ich dich nicht mehr fest. Du bist frei. Denn heute bin ich tot. Aus und vorbei! Trotzdem wollte ich, dass du mich nicht vergisst und ich wählte einen Tod, an dem du teilhaben solltest. Bitte verzeih mir dafür. Für mich war das wichtig.
    Hoffend, dass alles wie geplant geklappt hat, bitte ich dich um einen letzten Gefallen. Es ist ausgesprochen wichtig für mich:
    Überbringe den inliegenden
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