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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen
Autoren: Heike Vullriede
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von da komme ich gerade. Lass uns doch erst mal durch die Geschäfte hier unten bummeln, ja?«
    »Nein.«
    »Nein? Warum nicht?«
    »Das wirst du noch sehen. Komm mit.«
    Seine Bestimmtheit verdutzte mich. Tatsächlich suchte ich nun doch nach einem Grund für sein Verhalten. Vielleicht wollte er mir etwas Besonderes kaufen, aber das wäre wahrhaftig das erste Mal gewesen. Besser, ich spekulierte gar nicht erst. Ich ließ mich stumm weiter ziehen, während Jens scheinbar versuchte, unsere Laufgeschwindigkeit zeitlich abzustimmen. Manchmal schlenderte er mit mir fast in aller Ruhe an einigen Schaufenstern entlang, dann wieder drängte er mich nach einem Blick auf die Armbanduhr zur Eile. Während wir gingen, sah ich auf seine langen Beine, in enge Jeans gepackt, die unablässig und mit viel größeren Schritten als meine vorwärts staksten. Ich musste stets zwei Schritte laufen, um einen von seinen aufzuholen. Auf den Oberschenkeln seiner ehemals blauen Hose fand ich eine feine, aber deutliche Schicht schmierigen Drecks. Typisch Jens – keine Zeit für das wahre Leben.
    Unvermittelt blieb er stehen und packte mich bei den Schultern. Seine Finger kniffen schmerzhaft in meine Haut. Wollte er mir einen Antrag machen? Außer meinem Hirn lehnte sich sofort auch mein Magen auf. Eine derartige Verbindung mit Jens wollte ich mir keinesfalls mehr vorstellen … nicht noch einmal das Leben mit einem so schwierigen Menschen teilen. Jens sollte nur ein Freund bleiben. Von mir aus, ein guter Freund, aber mehr nicht. Wie aber sollte ich das diesem hochsensiblen und ständig suizidgefährdeten jungen Mann jetzt beibringen?
    »Das hatten wir doch schon mal, Jens … bitte …«
    Aber von einem Antrag schien nicht die Rede zu sein.
    »Was?«, fragte er. Jens sah so verständnislos aus, dass ich mich fast für meine Verdächtigung schämte. Er eröffnete mir, dass ich Post von ihm erhalten würde.
    »Diese Post …« Seine Stimme klang feierlich zitternd. »… diese Post darfst du erst heute Abend öffnen!«
    »Warum das denn?«
    »Mach' es so, wie ich es dir sage … bitte!«
    »Was hast du vor?«
    »Frag nicht! Es muss alles genau so ablaufen. Wirklich alles! Machst du es so, wie ich es dir sage, ja?«
    »Also gut, heute Abend. Aber dann hast du mir alles zu erklären, okay?«
    Jens sah zu Boden. »Ja, ja.«
    Ich wusste ja nicht, was er vorhatte. Man könnte es mir zum Vorwurf machen. Doch seltsame Andeutungen und geheimnisvolle Untertöne von ihm ließen mich schon lange nicht mehr aufhorchen.
    Wieder sah er auf die Uhr.
    »Komm, wir müssen los!«
    Ohne sonstige Kommentare zog er mich mehr, als dass ich selbst lief. Und so eilten wir im strammen Gang durch den Hauptbahnhof. Ich immer hinter ihm her. Hinter seinen langen dürren Beinen in der schmutzigen Hose. Kaum noch vorstellbar, dass ich diese Beine zwischen meinen eigenen Beinen geduldet hatte. Dafür verachtete ich mich inzwischen … und ja – dafür hasste ich Jens! Dafür, und weil er mich nicht in Ruhe ließ, wo ich doch kaum mit mir selbst klar kam, und er mir jetzt auch noch die Schuld an seinem weiteren Unglück aufbürdete!
    Wir eilten bis zum Ausgang ›Freiheit‹ und von dort auf diesen neu gestalteten Platz hinter dem Bahnhof, der die A40 überbrückt. Hier blieb er mit mir stehen und von hier aus blickten wir nach unten auf den fließenden Verkehr.
    Jens beugte sich über das Geländer und fixierte die in unsere Richtung kommenden Fahrzeuge, als wartete er auf ein bestimmtes. »Es steht eine Adresse darin«, sagte er, ohne mich anzusehen.
    »In deiner Post?«
    »Ja.«
    »Aber warum gibst du sie mir nicht einfach jetzt?«
    »Das ist eine ganz besondere Geschichte, weißt du. Schwierig, zu erklären.«
    Er verlor während der ganzen Zeit nicht einmal die mit mäßiger Geschwindigkeit anfahrenden Autos aus den Augen. Nur ab und zu schwenkte sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf seine Uhr. Warum konnte er nicht einfach nur einen unkomplizierten Bummel durch die Stadt mit mir machen? Was hatte ich nur erwartet? Nun stand ich mit ihm auf dieser Brücke, wusste – wie so oft – nicht, was er eigentlich wollte und sehnte mich nach bescheidener Normalität.
    Auf einmal richtete sich Jens auf und riss hektisch seinen Kopf zu mir herum. »Jetzt … jetzt …«, rief er und seine Stimme kippte in einen aufgeregten Tonfall, wie ich es noch nie bei ihm gehört hatte.
    Mit einem Satz sprang er auf das Geländer der Brücke. Er wäre fast sofort vornüber gekippt,
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