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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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helfen.«
    Die Tänzerin hatte ihn mit ihren klugen Augen angesehen, ohne eine Miene zu verziehen. Und doch standen ihr die Ängste sichtbar ins Gesicht geschrieben: Vampa klang nicht, als bräuchte er Hilfe. Er klang nie nach irgendwas . Es war, als gehöre seine Stimme nicht ihm; als habe ein Geist von ihm Besitz ergriffen, der weder wusste, wie man den Worten einen Klang verlieh, noch einen menschlichen Gesichtsausdruck hervorbringen konnte. Vampa hatte kein Anzeichen von Menschlichkeit. Er hatte keine Gefühle.
    »Wie soll ich dir helfen?«, erwiderte Dotti mit der Gelassenheit einer Frau, die diese Bitte oft hört.
    »Ich brauche Arbeit. Irgendwas. Ich … ich brauche Essen.«
    »Hol dir die Abfälle vom Mauseloch , da gibt es doch genug.« Als Dotti ihn fortwinken wollte, sagte er fest: »Ich brauche kein Essen nur für heute Abend. Ich dachte, ich komme ohne aus. Aber … ich lag falsch.«
    »Wie meinst du das, du dachtest, du kommst ohne aus? Ohne was?«
    »Ohne Essen.«
    »Seit wann?«
    Er dachte nach. Irgendetwas regte sich hinter der Maske seines bleichen Gesichts. »Seit wir Tee getrunken haben.«

    Dottis Augen wurden groß. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, obwohl sie gerne die Hände vor den Mund geschlagen hätte.
     
    Genau drei Monate zuvor war Dotti in der Stadt unterwegs gewesen. Sie hatte Geschäftspartner besucht und war in einigen der einflussreichsten Häuser der Stadt zum Tee gewesen, um Gäste von Eck Jargo zu treffen. Danach hatte sie ihrem Schneider einen Besuch abgestattet, der ihr ein neues Cape aus Hermelinfell machen sollte, wie Dotti es sich schon so lange wünschte.
    Als sie auf dem Weg zu Fräulein Friechens Teestube war, entdeckte sie etwas am Straßenrand, zusammengekauert zwischen Schutt und Abfall. Sie blieb stehen. Es sah aus wie eine Leiche. Ein Paar alter, abgetragener Schuhe ragte hervor.
    Dotti blickte nervös zu allen Seiten. Es kam hin und wieder vor, dass sich solche Überreste in der Nähe von Fräulein Friechens Teestube fanden … Die Wächter kümmerten sich meistens um ihre rasche Entsorgung, denn eine derartige Spur konnte geradewegs an die Pforten von Eck Jargo führen, vor allem jetzt, da die Polizei aufmerksamer war denn je und ihre Spitzel schon den kleinsten Blutstropfen witterten. Als Dotti näher trat, um zu prüfen, ob sie den Toten gekannt hatte, erschrak sie: Der Tote war gar nicht tot, sondern blinzelte träge mit den Augen.
    »Jesus Maria im Himmel!« Dotti war in wohl jeder Hinsicht unchristlich, aber was das Fluchen anging, war sie religiös geblieben. »Geht es dir gut, Junge?«
    Er starrte sie aus seinen toten Augen an, und als er die weißen Lippen öffnete, schimmerte seine Mundhöhle blutrot.
    »Ich habe Durst«, sagte er, aber es schien keine Bedeutung zu haben, und Dotti fiel es schwer, ihn zu verstehen, obwohl er klar sprach. Seine Worte waren auf eine merkwürdige
und unerklärliche Weise tot. Sie hätten nicht gesprochen werden dürfen, sie waren nicht real - wie eine Erinnerung, die man noch zu hören glaubt, obwohl sie längst vergangen ist.
    »Durst?«, wiederholte Dotti. Dann erkannte sie es, es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: Der Junge im Dreck war ein Vampir.
    Vor Schreck war sie wie gelähmt. Hundert Geschichten bestürmten sie auf einmal. Dotti war in einem Zigeunerzirkus aufgewachsen und sie hatte die Warnungen der alten Wahrsagerinnen nie vergessen. Vampire und Motten hatten die Albträume ihrer Kindheit besiedelt und ein Großteil ihres Aberglaubens war ihr über die Jahre des Erwachsenseins erhalten geblieben. Nun da der bleiche Junge zu ihr aufstarrte, zweifelte sie keine Sekunde daran, dass er ein Vampir war oder zumindest etwas ähnlich Unmenschliches.
    »Wer bist du?« Ihre Stimme schwankte. In der rechten Hand hielt sie bereits die kleine Pistole aus ihrer Handtasche, aber sie wusste, dass gewöhnliche Waffen Dämonen keinen Schaden zufügten.
    »Du musst mir helfen«, sagte der Junge monoton. Es war keine Bitte, kein Befehl. Sein Gesicht spiegelte nichts wider. Er erhob sich aus dem Dreck und blieb geduckt an der Mauer stehen. »Hilf mir.«
    Schreckensbleich erkannte Dotti, dass ihm Tränen aus den Augen strömten. Silbrige Rinnsale zogen sich über seine schmutzigen Wangen, Tropfen sammelten sich an seinem Kinn und perlten auf seine zerknitterten Kleider.
    »Es sind schon zwei Jahre vergangen. Sieh mich an. Wie alt bin ich?«
    »Bist du ein Vampir?«, hauchte Dotti.
    »Was?« Der Junge hatte sie nicht gehört. Noch
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