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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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schnell und geräuschlos wie eine Spinne zog er sich wieder hoch und kletterte weiter in Richtung Fenster. Seine Finger gruben sich in die dünne Staubschicht des obersten Regals und hinterließen feuchte Abdrücke. Einer der Fensterbogen war gekippt, gerade weit genug, dass ein schlanker Jugendlicher hindurchpasste.
    Der Fremde war unter ihm angekommen. Der Junge hielt sofort inne, dicht an die staubigen Bücher gedrückt, und hörte auf zu atmen.
    Ein Mann in einem roten Morgenmantel und Samtpantoffeln war im Lichtkreis zu sehen. Langsam führte er die Lampe am Regal entlang, als suche er nach einer Lücke in der makellosen Reihe. Staub tanzte im goldenen Schein der Flamme. Dann schien das Licht sich lang zu machen, griff Reihe um Reihe in die Höhe, glitt über die Bücher hinweg … und erfasste einen alten Schuh. Der Junge stand mit den Zehenspitzen auf dem Regal, zwei Meter über dem Mann.
    Der Mann riss den Mund auf. »Einbrecher! Hilfe - stehen bleiben!«
    Irgendwo bellten Hunde. Aufgeregt deutete der Mann in die Höhe, Bücher flogen aus dem Regal und schlugen mit flatternden Seiten rings um ihn zu Boden. Ein Schatten glitt zum Fenster - dann war er durch den Spalt geschlüpft und sprang an das Regenrohr.
    Der Mann stürzte ans Fenster, riss es auf und lehnte sich hinaus. Kühle Nachtluft strömte ihm entgegen. Zwischen seidigen Wolken schwamm der Vollmond am Himmel, sonst war alles wie mit Tinte übergossen.
    Hinter ihm scharrten Krallen über den Fußboden, dann waren drei Doggen am Fenster und bellten hinaus.

    »Herr Professor! Was ist passiert, Professor Ferol?« Zwei Dienstmädchen eilten herbei.
    »Da - da hängt der Einbrecher! Magda, ruf die Polizei, schnell!«, rief Professor Ferol. Das Dienstmädchen lief los.
    Der Junge hing mit einer Hand am Regenrohr und schob den Hosenträger über seine Beute, um sie zu befestigen. Professor Ferol erbleichte, als er das Buch erkannte. »Gib das zurück, du - du Rotzbengel! Hier kommst du nicht weg!«
    Der Junge blickte in die Tiefe. Unter ihm lag ein Innenhof - Fenster starrten ihn ringsum wie leere Augenhöhlen an - gegenüber schimmerte ein Eisentor unter der einzigen Laterne im Hof - und dahinter lag eine Straße.
    »Gib her!« Ferol hatte sein Bein zu fassen bekommen. Dem Jungen entfuhr ein gedämpfter Schrei, er riss sich los und glitt ab - gerade noch konnte er sich festhalten. Seine Handflächen brannten, als er ein Stück hinunterrutschte. Die Bibliothek befand sich im fünften Stock.
    Ohne Ferol zu beachten, kletterte er das Regenrohr hoch. Professor und Dienstmädchen staunten, so flink zog er sich empor. Dann war er am Dach angekommen, stemmte sich hoch, begann, über die lockeren Ziegel zu sprinten, bis er die Dachspitze erreichte. Sirenen heulten. Unten hielten zwei nachtschwarze Polizeiwagen. Männer liefen auf das Haus zu.
    »Da oben!« Ein Polizist deutete zu ihm herauf. Bald sahen auch die anderen die Silhouette auf dem Dach. Der Junge taumelte zurück und duckte sich. Aus dem Bibliotheksfenster drangen schwere Schritte, dann Stimmen. Lichter glommen in den Fenstern auf und füllten sie mit Leben.
    »Er ist da oben!« Es war Ferols Stimme. »Da oben sitzt er in der Falle!«
    Ein Polizist verrenkte sich fast den Hals, um zu ihm hinaufzuspähen, und fingerte eine Pistole aus seinem Gürtel. »Bleib stehen, Junge! Du bist festgenommen!«

    Sein Arm schwenkte durch die Luft, um die Balance zu halten. Seine Schuhe ragten über den Abgrund.
    »Wirf mein Buch runter!«, brüllte Ferol so aufgebracht, dass ihm die Schnurrbartspitzen zitterten. »Da, er hat mein Buch! Ich will mein Buch!«
    Der Junge richtete sich auf. Der Nachtwind bauschte seine Jacke auf und strich ihm das Haar ins Gesicht. Seine Faust schloss sich um den Ledereinband.
    »Was - was macht er da -«
    Jetzt .
    Er breitete die Arme aus und sprang.
    Der Schrei des Dienstmädchens, das Hundegebell, die verblüfften Rufe der Polizisten, alles verzerrte sich und verschwamm zu einem fernen Echo. Die Tiefe riss vor ihm auf wie ein schwarzer Schlund.
    Aus dem Fenster der Bibliothek sah man nur das dunkle Knäuel, zu dem er sich zusammengerollt hatte, und die Buchseiten, die gegen den Wind flatterten.
    Dann ein dumpfer Aufprall. Es klang wie splitternde Steinfliesen, wie brechende Knochen.
    Professor Ferol keuchte. »Er ist tot!«
    Der Polizist wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Die Stille sirrte ihnen lähmend und schwer in den Ohren. »Also … dann werden wir einen Leichenwagen
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