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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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erzogen haben?«
    Was er darauf antwortete, wusste er nicht mehr.

    »Willst du dir ein bisschen Geld verdienen? Sagen wir … drei Münzen echtes Piratengold?«
    Er schnappte vor Staunen nach Luft - der Mann zog drei alte Goldmünzen aus seiner Manteltasche! Aber Vampa zögerte. »Wofür?«
    Der Mann trat zur Seite und öffnete eine kleine Tür, die zuvor hinter ihm verborgen gewesen war. Fünf Kinder, schmutzig und mit großen, erwartungsvollen Augen, kamen zum Vorschein.
    »Ich will euch ein Buch vorlesen. Ein neues Buch, das wahrlich wunderschön wird. Es muss der ganzen Welt gefallen und dafür brauche ich eure Meinung. Die Meinung von unschuldigen, lieben Kindern wie euch.«
    Alles, was dann geschah, war verblasst und zerfallen wie ein wirrer Albtraum, aber niemals vergaß Vampa, was der Mann mit dem Zylinder gesagt hatte.
    Ein neues Buch, das wahrlich wunderschön wird. Es muss der ganzen Welt gefallen.
     
    Vampa erwachte mit einem bitteren Geschmack im Mund. Er richtete sich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die spröden Lippen. War es Nacht oder schon Tag oder wieder Abend? Aus Gewohnheit blickte er zuallererst in den zerbrochenen Spiegel.
    Noch bevor er sein Gesicht sah, hatte er es gewusst.
    Die schwarze Prellung am Kinn war verschwunden. Das abgesplitterte Zahnstück war wieder da. Seine Finger waren nicht mehr gebrochen, auch seine Schulter, sein Schlüsselbein und seine Rippen waren wieder heil. Er starrte den bleichen Jungen im Spiegel an, betrachtete das unveränderte Gesicht mit den scharf geschnittenen Zügen und den Augen, die leer und lichtlos zurückstarrten. Mit den Fingern strich er sich über die Haare. Sie waren so lang und zerfranst wie immer.
Seine Hände waren schmal, die Hände eines Vierzehnjährigen. Das gleiche Gesicht wie jeden Morgen. Seit neun Jahren.

Hasenjagd

    A polonia Magdalena Spiegelgold hatte eine exzellente Handschrift, wenn sie wollte. Die Feder führte sie so elegant wie ein Fechter seinen Degen. Was Apolonia trotz der schönen Schrift jedoch gänzlich fehlte, war Geduld, und nach kaum fünf Zeilen verwandelten sich ihre fein geschwungenen Lettern in ein hastiges Gekrakel. Da sie aber gerade erst zu schreiben begann, war ihre Schrift noch so ordentlich wie in einem gedruckten Buch. In der oberen rechten Ecke des rosenparfümierten Tagebuchs notierte sie: Eintrag Nummer 1, der 5. November .
    »Da meine Mutter«, schrieb sie, »Magdalena Johanna Spiegelgold (möge sie in Frieden ruhen), nun in keinem gesunden Gedächtnis außer dem meinen mehr existiert, fühle ich mich verpflichtet, ihre Person oder das, was ich während meiner Kindheit von ihrer Person erfasst habe, in diesem Buch festzuhalten, damit die Erinnerung an sie nicht ganz entschwindet.«
    Etwa an dieser Stelle begannen sich die ersten N und A unschön zu verformen. Apolonia tauchte ihre Feder erneut in das Tintenfässchen und schrieb weiter. Rings um sie herum lagen Gegenstände auf ihrem Schreibtisch, die sie oft zur Hand nahm: ein silberner Kamm, ein Poesiebuch, eine Bibel - die berührte sie allerdings herzlich selten, weshalb das Buchleder
inzwischen eine Staubschicht überzog -, eine goldene Schnörkelbrosche, die sie geerbt hatte, ihr Geigenkoffer und eine Gießkanne aus glänzendem Messing. Die Gießkanne warf das Gesicht einer Fünfzehnjährigen zurück, die mit konzentrierter Miene schrieb. Ihre Haare waren fast schwarz, so wie die ihres Vaters früher, während sie die Augen ihrer Mutter hatte: Blau wie Saphire saßen sie in den Schatten, die die spitzen Brauen warfen. Die Nase war etwas lang, ihr Mund klein und mit vollen Lippen, was sie schnell pikiert wirken ließ. Ihre Ohren standen ein bisschen ab, weshalb Trude ihr meist einen Haarkranz flocht, der sie verdeckte. »Schön wie Ihre Mutter sind Sie«, pflegte die dicke alte Kinderfrau jeden Morgen zu sagen, wenn Apolonia fertig frisiert und angekleidet war. Aber sie log. Ihre Mutter hatte Elfenbeinhaut gehabt, Apolonia besaß den Teint einer Leiche. Die Augen ihrer Mutter hatten gestrahlt, Apolonias blitzten vor Kühle. Sie war ein kränkliches, nörgelndes Kind mit dünnem Haar gewesen und daran hatte sich nicht viel geändert. Als sich vor zwei Jahren eine Biene in ihr Zimmer verirrt und Apolonia eine dicke Backe beschert hatte, war ihr erstmals aufgefallen, dass sie, wäre sie ein bisschen fülliger gewesen, recht hübsch ausgesehen hätte. Allerdings wirkte sie mit Pausbäckchen auch kindlicher, was überhaupt nicht in ihrem
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