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Virgil Flowers 03 - Bittere Suehne

Virgil Flowers 03 - Bittere Suehne

Titel: Virgil Flowers 03 - Bittere Suehne
Autoren: John Sandford
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EINS
    Die Augusthitze verflüchtigte sich mit dem Tag. Gegen acht würde der Vollmond am Horizont aufsteigen, und es böte sich ein spektakulärer Blick über den Stone Lake.
    Alles optische Täuschung, dachte Erica McDill. Das wusste sie von ihrem Vater.
    Ein Vollmond am Horizont sei nicht größer als ein Vollmond direkt über einem, hatte er ihr als kleinem Mädchen im Hof hinter dem Haus erklärt. Der Größenunterschied sei eine optische Täuschung. Um ihre Zweifel zu zerstreuen, hatte er ein Polaroidfoto vom größten und gelbsten Mond des Jahres gemacht, dem Herbstmond am Horizont, und dieses mit einem verglichen, wenn er sich senkrecht über ihm befand. Sie waren tatsächlich gleich groß gewesen.
    Er war Wissenschaftler und stolz auf seine Genauigkeit.
    Erica McDill, die eine Werbeagentur leitete, wusste, dass ihr Vater gleichzeitig recht hatte und sich irrte. Wissenschaftlich gesehen stimmte seine Theorie, aber damit ließ sich kein Geld verdienen. Ein dicker, fetter, golden leuchtender Mond am Horizont der Produkte, die man absetzen wollte, förderte den Verkauf, optische Täuschung hin oder her …
     
    Erica McDill glitt fast lautlos in einem über vier Meter langen Native Watercraft durchs Wasser, einer Mischung aus Kanu und Kajak, auf Stabilität ausgelegt und geeignet für eine bootsunkundige Städterin mit Bürohänden.
    An diesem Abend spielte die Stabilität keine große Rolle, weil der See nach einer Hitzewelle vollkommen glatt dalag. In der Wettervorhersage hatte es geheißen, dass in der Nacht leichter Wind aufkommen würde.
    Das Paddel glitt durchs Wasser, rechts, links. Aus der Ferne, wahrscheinlich von einem anderen See, klang das Brummen eines Außenbordmotors oder einer Kettensäge herüber, weit weg und schwach, ein Geräusch an der Grenze zum Nichts. Insekten schlüpften im Wasser: Sie tauchten an die Oberfläche und erhoben sich, ein leichtes Kräuseln hinterlassend, in die Luft.
    Etwa einen Kilometer von der Lodge entfernt paddelte sie zu einem Bach, der zwischen einer Wand aus Espen aus dem See in ein Seerosenfeld und vorbei an einem umgestürzten Baum floss, auf dem sich fünf Schildkröten sonnten. Die Schildkröten plumpsten von dem Stamm, als sie Erica McDill bemerkten, die bei ihrem Anblick schmunzelte. Wenige Meter weiter bog sie in den Bach ab, der sich zwanzig Meter lang verengte, und gelangte zu einer offenen, von Schilfrohr gesäumten Stelle.
    Der Weiher, wie sie diese Stelle nannte, war etwa hundertfünfzig Meter lang und fünfzig breit. Am einen Ende, wo der Bach sich verengte und abwärts zu fließen begann, stand eine Weymouthskiefer wie ein Wachposten zwischen den niedrigeren Bäumen. Hoch oben befand sich ein Adlerhorst. Abends beobachtete Erica hier gern, wie sich eines der erwachsenen Tiere dem Nest näherte oder wegflog.
    Ein paar Minuten zuvor hatte sie vom See aus eines von ihnen auf der Suche nach etwas Essbarem aufsteigen sehen. Erica glitt in der Hoffnung, dass der Vogel bald wiederkehren würde, langsam zu der Kiefer, lehnte sich auf ihrem Sitz zurück, steckte das Paddel in die Halterung, spreizte die Beine und ließ die Füße zu beiden Seiten des Boots in das warme Wasser baumeln.
    Sie genoss die Sonne auf ihrem Rücken, holte Zigarette und Feuerzeug aus einem Plastikbeutel, zündete die Zigarette an und sog den Rauch ein.
    Perfekt. Fast.
    Wenn nur ihre Gedanken aufgehört hätten zu kreisen.
     
    Erica McDill leitete die Werbeagentur Ruff-Harcourt-McDill in Minneapolis. Ruff war tot, Harcourt hatte sich aufs Altenteil zurückgezogen und sich zwei Wochen zuvor bereit erklärt, seinen Anteil an Erica zu verkaufen, was bedeutete, dass dann fünfundsiebzig Prozent der Anteile ihr gehörten.
    Absolute Kontrolle.
    Wunderbar.
    Sie hatte daran gedacht, der Agentur einen neuen Namen zu geben – Media/McDill oder McDill Group –, sich jedoch dagegen entschieden. Werbekunden kannten RHM; der Name stand für Stabilität. Und genau die würde sie brauchen, wenn sie begann, den Wildwuchs zu beseitigen.
     
    Im Lauf der Jahre hatten sich Faulenzer, Zeitverschwender und Langsamdenker in der Agentur eingenistet, die sich nicht für einen Job in einer angesagten Werbeagentur eigneten. Wenn sie sie loswurde – Erica hatte eine Liste mit Namen angelegt –, würde das von heute auf morgen zu einer zwölfprozentigen Umsatzsteigerung mit praktisch null Produktivitätsverlust führen. Beschäftigte waren teuer. Manche von ihnen schienen zu glauben, dass der Zweck der Agentur
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