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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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wich ihnen aus, und die Damen zogen an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken.
    Ich wäre so alt wie sie.
    Vampa wandte sich ab und ging schneller. Er hielt den Kopf gesenkt. Wenn ihm die Leute direkt ins Gesicht blickten, erschraken sie vor etwas, das sie sich nicht erklären konnten; als würden sie für Sekunden ein schreckliches Licht in seinen Augen sehen, ehe es ebenso schnell erlosch, wie es gekommen war, und sie vergaßen, dass es je existiert hatte.
    Er bemühte sich meistens darum, unbemerkt durch die Menge zu schlüpfen. Auch heute nahm kaum einer den Jungen wahr, der durch die vom Abendlicht durchtränkten Straßen huschte, schnell und lautlos, einer von vielen Lumpenjungen, die in den Dämmerstunden die Stadt bevölkerten.
    Als der Marktlärm hinter ihm zurückblieb, bog er in eine Seitengasse und erreichte ein wahres Labyrinth kleiner Straßen und Hinterhöfe. Schänken, die der Geruch von Bier umwölkte, und Wirtshäuser zweifelhaften Rufes drängten sich in den engen Gassen zusammen, dazu unzählige kleine Geschäfte, schmuddelige Barbiere und Antiquitätenhändler, Pfandhäuser und Nähereien. In den Höfen zwischen dunklen Hausfassaden riefen Kinder aus Leibeskräften: »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« Hundekläffen hallte durch das Viertel, Ratten huschten durch die Abfälle und ein Gewirr fremder Sprachen drang aus den Fenstern. Manche Prediger sagten, Viertel wie diese seien die Brutstätte allen Übels,
aber in Wirklichkeit waren sie die Quelle des Lebens. Was hier kochte und brodelte, wimmelte und wuselte, das war die Natur und was die Menschen aus ihr machten.
    Vampa nahm bei jeder Weggabelung die dunkelste und schmalste Straße. Hier drang kaum Licht hinab; was die Backsteinhäuser nicht hinter sich verbargen, wurde von den Leintüchern verschluckt, die über die Gassen gespannt waren. Er erreichte eine Sackgasse. Hinter der bröckeligen Mauer an ihrem Ende türmte sich Abfall und ihm atmete dunstiger, saurer Gestank entgegen. Links und rechts waren die Häuser scheinbar unbewohnt. Und doch wusste er, dass er aus den Fenstern beobachtet wurde: Gewehrläufe und Pistolen zielten aus der Finsternis auf seinen Kopf.
    Ein einziges Geschäft befand sich in der Gasse. Die rote Farbe der Tür blätterte bereits ab, und der runde Messinggriff, einst golden lackiert, hatte längst zu rosten angefangen. Die Aufschrift auf dem Schaufenster war nur noch schwer zu lesen: Fräulein Friechens Teestube. Teesorten aus aller Herren Länder.
    An der Tür hingen ein schweres Eisenschloss und ein Schild, auf dem stand: Geschlossen .
    Vampa drückte die Türangeln nach oben. Sie ließen sich problemlos schieben, nicht das leiseste Quietschen erklang. Dann schwang die Tür mit einem lautlosen Luftzug nach innen auf, Schloss und Türgriff noch immer fest verriegelt.
    Ein süßlicher, modriger Teeduft umhauchte Vampa. So stellte er sich den Geruch einer alten Frau vor, die einmal wunderschön gewesen war - wie das schwelende Aroma einer welken Blume.
    »Wer ist da?«, fragte eine zittrige Stimme. Aus dem Halbdunkel schlurfte eine Frau, die sich schwer auf ihren Gehstock stützte. Ihr weißes Haar umflammte das ausgezehrte Gesicht wie flatternde Spinnweben.

    »Hallo, Fräulein Friechen«, sagte Vampa leise. Die Alte hob blitzschnell ihren Gehstock und hielt ihn an Vampas Kehle. Eine messerscharfe Eisenspitze kitzelte ihm den Hals.
    »Bist du alleine, Vampa?«, fragte die Alte freundlich.
    »Wie immer.«
    Ein Lächeln glitt über das Runzelgesicht der Alten. »Du kennst ja den Weg.«
    Vampa setzte sich in Bewegung. Der Gehstock glitt von seinem Hals hinunter zu seinem Rücken. Fräulein Friechen folgte ihm mit humpelnden Schritten durch das dunkle Geschäft. Die Möbel und die Blechdosen in den Regalen überzog längst eine dicke Staubschicht. Als Vampa einen dunklen Vorhang am Ende des Raumes erreichte, verschwand der sanfte Druck an seinem Rücken.
    »Eure Angelegenheit, Jungs«, sagte die Alte friedlich, und Vampa hörte das dumpfe Klopfen ihres Gehstocks, als sie sich entfernte. Er drehte sich um, als sie verschwunden war, und schob den Vorhang hinter sich auf, den Blick zum Schaufenster hinaus gerichtet. Zwei Hände griffen ihn von hinten an den Schultern und zogen ihn am Vorhang vorbei. Erst jetzt, da der schwarze Stoff vor ihm zufiel, durfte Vampa sich umdrehen.
    Er stand unter einer nackten Glühbirne, die von der niedrigen Decke baumelte, und konnte nur Schemen von den Männern erkennen, die rings um ihn an
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