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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier
Autoren: Helen Dunmore
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gewaltigen Sehnsucht nach Mum erfüllt. Ich vertraue Roger. Ich weiß, dass er sie in Sicherheit gebracht hat, aber ich muss sie mit meinen eigenen Augen sehen. Muss sie in die Arme schließen und an mich drücken und mich vergewissern, dass sie immer noch da ist. Auch Sadie wird in meine Arme laufen und mit ihrer rauen, warmen Zunge über mein Gesicht lecken. So vieles ist fortgespült worden, doch nicht alles.
    »Komm, Conor.«
    Conor reagiert nicht. Er ist immer noch in ein intensives Gespräch mit Elvira vertieft, doch ihre Stimmen sind zu leise, als dass wir sie verstehen könnten. Faro und ich schauen uns an und heben die Augenbrauen.
    »Conor!«

    Als Conor und ich den letzten Abhang hinunterstolpern, zittere ich vor Kälte und Erschöpfung. Die Stadt zu unseren Füßen ist still. Ein Mitarbeiter vom Rettungsdienst in einer leuchtend gelben Jacke, dem wir auf dem Fußweg begegneten, verwies uns auf das Rettungslager im St. Mark’s Gemeindesaal, der den höchsten Punkt über der Stadt bildet. Er wollte uns noch ein paar Fragen stellen, doch wir sagten, wir hätten keine Zeit, weil wir nach unserer Familie suchten. Vermutlich wird er sich gefragt haben, wie wir nach dieser
Nacht der Verwüstung plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen konnten. Unten im Ort befinden sich zahlreiche Rettungsarbeiter, die ihre Schlauchboote durch die überfluteten Straßen lenken. Aus der Ferne erkennen wir das Neongelb ihrer Jacken und das Orange der Boote.
    »Einer von denen ist bestimmt Roger«, sagt Conor und hält sich schützend die Hand über die Augen. Ein Hubschrauber knattert über uns hinweg. »Alles okay, Saph? Kannst du laufen?«
    »Das Bein tut weh, aber es geht schon.«
    »Ich wünschte, Elvira wäre hier.«
    Das glaube ich dir , denke ich. Es ist erst ein paar Minuten her, seit wir uns von Faro und Elvira verabschiedet haben, doch sie scheinen schon zu einem anderen Leben zu gehören. Ich denke an Faros Worte. Unsere Leben werden sich wieder verbinden, kleine Schwester. Conors Gesicht sieht so aus, als würde auch er sich erinnern, und zwar an Elviras Worte.
    Er hat mir den Arm um die Schultern gelegt und stützt mich, als wir den Gemeindesaal erreichen. Überall stehen Leute, in Decken gewickelt, und trinken aus Plastikbechern.
    »Das Fernsehen ist auch schon da«, brummt Conor. Ein Reporter, auf den eine Kamera gerichtet ist, spricht in ein Mikrofon.
    »Hier ist Alex McGovern aus der schwer getroffenen Stadt St. Pirans, wo das trübe Morgenlicht das ganze Ausmaß der Verwüstung enthüllt …« Verglichen mit dem Reporter, der warme, wasserdichte Kleidung trägt, sehen alle anderen Menschen wir Flüchtlinge aus. Plötzlich richtet sich die Kamera auf Conor und mich. »Die Menschen, deren Häuser
zerstört wurden, befinden sich auf dem Weg ins Notlager. Viele von ihnen sind verletzt und suchen nach Familienangehörigen. « Der Reporter streckt Conor das Mikrofon entgegen und versperrt uns den Weg zum Eingang. »Seid ihr Geschwister? Könnt ihr berichten, was ihr erlebt habt?«
    Conor zögert, bevor er in aller Ruhe antwortet: »Nein, das können wir nicht. Und jetzt lassen Sie uns bitte durch, meine Schwester ist verletzt.«
    Während wir den Gemeindesaal betreten, hören wir hinter uns die Stimme des Reporters: »Es scheint wie ein Wunder, dass bislang keine Todesopfer zu beklagen sind. Doch sobald die Rettungskräfte in der Lage sein werden, in die überfluteten Häuser einzudringen, wird sich das vielleicht ändern. An der gesamten Küste in dieser Gegend bieten sich dieselben Bilder der Verwüstung.«
    Im Gemeindesaal drängen sich die Menschen. Manche kauern, in Decken gewickelt, auf dem Boden, andere lehnen an den Wänden. Babys schreien, doch die meisten Leute sind so stumm, als seien sie vor Schreck wie gelähmt. Nach und nach erkenne ich mehrere Gesichter. Dort drüben sind die Trevails. Sie sind in Rettungsdecken gehüllt und nippen an ihren Bechern. Als Mr Trevail mich sieht, winkt er mir zu. Er sieht nicht sonderlich mitgenommen aus. Doch wo ist Mum?
    »Da hinten!«, ruft Conor.
    Mum hat uns noch nicht gesehen. Sie hält einen Plastikbecher in der Hand und redet mit einem Polizisten, der sich Notizen macht.
    »Mum!«, rufe ich – viel lauter, als ich vorhatte. Die Leute drehen sich um, aber das ist mir egal. Ich renne los, stolpere über Decken und Füße. »Mum, Mum, geht’s dir gut?«

    Mum lässt ihren Becher fallen. Sie scheint regelrecht durch den Saal zu fliegen. Ihre Arme schließen sich wie
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