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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch
Autoren: H Dunmore
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Tunnelwände ganz und gar nicht schwarz sind. Sie leuchten in einem tiefen Rubinrot. Als wäre der Tunnel aus einem riesigen Juwel herausgeschnitzt worden. Faros Gesicht glüht im Widerschein des roten Lichts.
    »Wir sind jetzt nahe am Versammlungsraum«, flüstert er. »Hörst du? Das sind meine Leute.«
    Das sanfte Murmeln ist also nicht das ferne Geräusch der Wellen, sondern stammt von den Mer.
    »Wie viele sind es?«
    »Hunderte, vielleicht Tausende. Hör dir das Echo an. Der Raum scheint sehr voll zu sein.«
    »Was tun sie dort?«
    »Warten.«
    »Worauf warten sie?«
    »Auf uns natürlich. Genauer gesagt, auf dich , kleine Schwester.«
    Ich starre ihn erschrocken an. »Du machst Witze.«
    »Sie waren tagelang unterwegs, um zu dieser Versammlung zu kommen.«
    »Woher willst du das wissen? Okay, Morlader hat uns abgeholt, aber all die anderen?«
    »Ich kenne die Wege meiner Leute«, entgegnet Faro voller Stolz.
    Für einen kurzen Moment wünsche ich mir fast, wieder im Tunnel zu sein und zu den Würmern sprechen zu können. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich Hunderten, vielleicht Tausenden von Mer gegenübertrete. Wie enttäuscht sie sein werden, wenn sie feststellen, dass ich ein ganz normales Mädchen bin, das über keine besonderen Kräfte verfügt.
    »Das muss ein Irrtum sein, Faro. Sie können nicht auf mich warten. Lass uns zurück …«
    »Was? Zurück durch den Tunnel? Das kann nicht dein Ernst sein. Sogar für mich war das kein Kinderspiel.«
    »Hattest du Angst, Faro?«
    »Ich? Angst?« Seine Augen funkeln entrüstet. »Ich war … ein wenig angestrengt, meine liebe Sapphire.«
    »Das war ich auch. Ein wenig angestrengt.«
    Das Gemurmel der Stimmen schwillt an. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie aussehen, die zahlreichen Mer, die hier zusammengekommen sind. Plötzlich bin ich ebenso neugierig wie nervös. Schon immer habe ich mir gewünscht, den Mer von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Faros Gefährten. Vielleicht auch meinen Gefährten, gewissermaßen …
    »Wird mein Vater auch da sein?«, frage ich plötzlich.
    »Nein.«
    »Warum nicht? Er ist doch jetzt auch ein Mer, oder?«
    »Er braucht immer noch Erholung.«
    »Erholung? Du hast mir gar nicht erzählt, dass er krank ist.«
    »Du weißt doch, dass er verletzt wurde, als der Gezeitenknoten aufbrach. Sein Körper hat den Zorn der Gezeiten zu spüren bekommen.«
    »Aber ich dachte, es geht ihm gut – ich wusste nicht, dass es etwas Ernstes ist. Warum hast du mir das nicht gesagt? Was ist mit ihm?«
    Faro berührt seinen rechten Arm oberhalb des Handgelenks. »An dieser Stelle war der Knochen gebrochen. Außerdem hat er ein paar Rippenbrüche und Blutergüsse am ganzen Körper, nachdem er gegen den Felsen geschleudert worden war. Die Lehrerin meiner Schwester hat ihn geheilt. Sie ist eine große Heilerin.«
    »Oh.«
    Mir wird ganz übel bei dem Gedanken, dass mein Vater gegen einen Felsen geschleudert wurde. In den Strömungen habe ich die gewaltige Kraft des Wassers kennengelernt. Es muss ein furchtbares Gefühl gewesen sein, die Macht der entfesselten Gezeiten am eigenen Leib zu spüren. Ich wusste, dass Dad verletzt war, weil er während des Hochwassers nicht kam, um uns zu helfen, aber ich hatte mir nicht klargemacht, wie schwer verletzt er sein könnte.
    »Doch auch sein Herz ist schwer«, fährt Faro leise fort, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen.
    Mein Vater ist trist , denke ich. Mein Vater ist kommolek . Die Wörter legen sich wie Schatten auf mein Herz.
    »Du hast recht, kleine Schwester«, sagt Faro, der meine Gedanken liest. »Sein Herz macht ihm mehr zu schaffen als sein Körper.«
    Ich wünschte, ich könnte Dad durch meine Gedanken erreichen. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen: Halte durch. Wir haben dich nicht vergessen. Conor und ich werden alles tun, um dich nach Hause zu bringen.
    Aber Dad kann mich nicht hören.
    Erneut lausche ich dem Gemurmel der Stimmen.
    »Was ist mit Mellina? Wird sie da sein?«
    »Das wäre schon möglich. Ich weiß nicht.«
    Wenn sie es ist, dann werde ich ihr vielleicht persönlich begegnen. Der Mer-Frau, die mein Vater liebt. Der Frau, die ihn dazu verführt hat, sein Zuhause zu verlassen. Ihretwegen hatte er seiner Frau, Conor und mir und der gesamten Menschenwelt den Rücken gekehrt.
    Ach wäre ich doch in Indigo …
    Mein Vater hat diese Worte geglaubt, die Mellina ihm vorgesungen hat. Er sehnte sich nach Indigo, und sein Wunsch wurde erfüllt. Als ich Mellinas Gesicht in
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