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Niemand

Niemand

Titel: Niemand
Autoren: Nicole Rensmann
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ein. Die Krüge hielten sie fest in den Händen – die Krüge mit der kostbaren Flüssigkeit.
    Sie warteten.
        

94.

    Der Kleine Dickkopf saß auf der Schulter des Roboters mit der Nummer 32. Sie rannten in das Wäldchen zurück, in dem Misses Bums und Mister Dings so gern spazieren gegangen waren. Der Kleine Dickkopf hatte sie oft gesehen. Doch Misses Bums und Mister Dings waren tot. Das Liebeswäldchen verbreitete keine Liebe mehr, es sandte keine betörenden Düfte aus, die Blüten waren verschwunden, die singenden Engel verstummt, verspielte Elfen hatten den Ernst des Lebens hervorgerufen. Und den Tod.
    Der Kleine Dickkopf war traurig. Er legte seinen schweren Kopf auf den des Roboters und weinte. Das linke Bein von Nummer 32 quietschte, er hinkte. Er hatte viele Greislinge getötet, doch der Kampf hatte ihm zugesetzt und Schrammen, Dellen und Haarrisse in seiner Konstruktion hinterlassen.
    Sie hatten ihr Ziel erreicht. Die Decke lag unberührt auf dem Boden, dort wo zuvor noch Niemand gelegen hatte. Nummer 32 griff danach und gab sie dem Kleinen Dickkopf, der sie kurz betrachtete, ehrfürchtig mit einer Hand darüberfuhr und dann an sich drückte.
    Schweigend und schnell liefen sie zurück, obwohl Nummer 32 nun stärker hinkte und sich das Quietschen zu einem lauter werdenden Knacken und Scharren entwickelte.
        

95.

    »Es steht etwas darauf«, sagte der Kleine Dickkopf.
    Nina nahm die Decke an sich und nickte. Sie wusste es, aber sie hatte noch nicht die Möglichkeit gehabt, die Bedeutung der Schnörkel herauszufinden, die sie ansatzweise hatte sehen können. Sie drückte kurz ihr Gesicht in die Decke, die nach Staub, Holz und Erdbeeren roch. Dann faltete sie die Decke auseinander und hielt sie an gestreckten Armen vor sich.
    Es war ein Name. Nein! Namen. Namen. Zwei Namen. Nein, drei Namen!
    » Seine Namen. Die Namen, die er bekommen sollte, die seine Mutter für ihn bestimmt hatte. Niemands Mutter. Es gibt sie. Die Namen. Für Niemand!« Ihre Stimme überschlug sich.
    Die Niemandsländer stöhnten, weinten, manche lachten – hilflos, traurig, andere glücklich. Ein Windstoß fegte über den Platz, riss die Worte mit sich und verbreitete sie über das Land, pustete sie in jede Ritze und in jedes noch so kleine Versteck, in das sich die E-Mann-Zehen, die Greislinge und andere Widersacher verdrückt hatten. Auch Jesus, der Heilige Geist und der Phrasendrescher, der die ersten aufkeimenden Phrasen auf dem Floskelweg zwischen Ende und Anfang und Anfang und Ende eingesperrt hatte, hörten den Wind und beeilten sich.
    Niemand erhielt seinen Namen.
    Endlich!
      
    Als hätten sie sich abgesprochen, hielten sich alle Niemandsländer an den Händen. Keiner sprach ein Wort, sie wussten, was von ihnen verlangt wurde; und wer sich nicht sicher war, schaute beim Nachbarn ab.
    Simultan begannen die Elfen auszuschwärmen und die kostbare, leuchtende Flüssigkeit aus den Glaskrügen zu verteilen. Jeder einen Schluck. Fräulein Klimper gehörte zu den Ersten, die tranken.
    »Elfen-Tränen«, hauchte sie und schloss die Augen.
    Nina umklammerte die Decke und konnte den Blick nicht von Niemand abwenden. Dann kamen die Elfen zu ihr, die kleinste von ihnen reichte ihr den Krug und überließ ihn ihr. Nina sollte nicht nur trinken. Sie legte die Decke über ihre Schulter und nahm den Krug entgegen. Die Elfe verschwand. Nina trank einen Schluck. Elfen-Tränen schmeckten süß. Sie zitterte so stark, dass sie einen Teil der flüssigen Rarität verschüttete, als sie sich vor Niemand kniete.
    Eine junge Elfe wollte ihr zu Hilfe eilen, doch eine ältere hielt sie zurück.
    An der Stelle, an der die Elfen-Tränen auf den Boden trafen, keimten grüne Sprösslinge. Sie verkümmerten sofort an der von Trauer gefüllten Luft.
      
    Während nach und nach alle Niemandsländer von den Elfen-Tränen tranken, ließen einige Elfen die gesammelten Tränen der Niemandsländer, in denen unzählige Wünsch-Wimpern schwammen, auf Niemand und die Niemandsländer hinabregnen. Leises Klavierspiel erfüllte die Luft. Unzählige Wünsche schwirrten auf Fräulein Klimper zu. Wünsche von Hunderten Niemandsländern, Elfen, Wesen und einem Menschen. Ein Wunsch.
    Stark. Einzigartig.
      
    Nina hatte noch nie einen Toten gesehen. Die sichtbar machende Wirkung des Elfenstaubs hatte nachgelassen, Niemands Konturen zeichneten sich unter dem Mantel des Nikolaus ab. Ein Schatten wischte die letzten Hautflecke aus Niemands Gesicht. Nina sah
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