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Niemand kennt mich so wie du

Niemand kennt mich so wie du

Titel: Niemand kennt mich so wie du
Autoren: Anna McPartlin
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einmal an, die Melodie von Paul Youngs und Zuccheros Senza Una Donna vor sich hin zu summen. Sie musste daran denken, wie Clooney stattdessen immer «Scent of Madonna», also Geruch von Madonna, gesungen hatte, um Lily zum Lachen zu bringen und Eve zu nerven. Eve war als Teenager leicht zu nerven gewesen.
    «Scent oft Madonna, gives me pain and some sorrow, scent of Madonna, she’ll still smell bad tomorrow.»
    «Arsch!»
    «Evey, du sollst nicht Arsch zu deinem Bruder sagen!»
    «Dann sag ihm, er soll aufhören, sich wie einer zu benehmen.»
    «Clooney, hör auf, deine Schwester zu nerven!»
    «Ich singe doch nur!»
    «Nein, du gehst mir auf die Nerven!», sagte Eve.
    «Davon geht doch die Welt nicht unter, Evey.»
     
    Der Garten war zugewuchert, das alte Baumhaus stand schon lange nicht mehr, aber die große alte Eiche gab es immer noch. Eve lehnte sich gegen den Stamm und betrachtete das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter vor ihrem Tod monatelang nur im Schlafzimmer gewohnt hatte. Als es mit ihr zu Ende ging, durfte Eve sie einmal am Tag für ein paar Minuten besuchen. Sie kam nie ohne Lily, die stumm am Bett stand und Eves Mutter die Hand streichelte.
    «Wie geht es dir, Mum?»
    «Gut», pflegte ihre Mutter mit einem strahlenden Lächeln zu antworten.
    «Du siehst aber nicht gut aus.»
    «Nein.»
    «Du siehst komisch aus.»
    «Hab keine Angst.»
    «Ich habe keine Angst. Ich bin traurig.»
    Eves Vater hatte oft versucht, ihr beizubringen, dass es nicht immer klug war, alles, was sie dachte, laut auszusprechen, vor allem wenn es ihre kranke Mutter zum Weinen brachte. Die Kunst feiner Andeutungen hatte sich Eve bis heute nicht erschlossen.
    Sie setzte sich auf die alte Holzschaukel, auf der Lily und sie fast jeden regenfreien Tag gesessen hatten, bis sie mit zwölf fürs Schaukeln zu cool geworden waren. Eigentlich hätte die Schaukel nach dreißig Jahren morsch und völlig unsicher sein müssen, doch ihr Vater hatte sich die ganzen Jahre darum gekümmert. Das Gerüst war fest in die Erde zementiert und fügte sich ebenso selbstverständlich in die Landschaft ein wie die großen alten Bäume. Eve fing zaghaft an zu schaukeln und musste daran denken, wie sie und Lily als kleine Mädchen immer gekreischt hatten, wenn sie versuchten, sich zu übertrumpfen, und immer höher schaukelten, bis die Füße an den Himmel stießen.
    «Wer am höchsten kommt, hat einen Wunsch frei!», rief Eve immer, und Lily flippte jedes Mal aus, weil sie so viele Wünsche hatte, dass sie sich unmöglich für einen einzigen entscheiden konnte.
    «Mir fällt nichts ein, mir fällt nichts ein!», rief Lily dann verzweifelt, als wäre es das allererste Mal, dass sie einen Wunsch äußern sollte.
    Sie schaukelten und schaukelten, und wenn es nicht mehr höher ging, schrie Lily, so laut sie konnte: «Ich hab dich lieb, Eve Hayes!»
    Und Eve antwortete schreiend: «Ich hab dich lieb, Lily Brennan», und dann kicherten sie und strampelten wie wild mit den Beinen.
    Eve hatte seit Ewigkeiten nicht mehr geschaukelt oder überhaupt irgendetwas aus vollem Herzen getan, und so saß sie nur still auf der Schaukel und starrte zu Boden, auf den Flecken Gras vor ihr, auf dem sie oft zusammen mit ihrer Freundin Lily gelegen und gegen das gleißende Sonnenlicht blinzelnd zum Himmel und zum Fenster ihrer Mutter hinaufgesehen hatte. So wie an dem Tag, als sie gestorben war. Sie hatten im Gras gelegen und sich über dies und das unterhalten. Im Haus herrschte Aufruhr, Erwachsene kamen und gingen, Eves Tante weinte, und ihr Onkel telefonierte ununterbrochen. Eves Vater rief nach Clooney, und dann geschah etwas. Die Leute hörten auf, im Haus hin und her zu laufen, alles wurde still, und dann zog jemand Unsichtbares im Zimmer von Eves Mutter die Vorhänge zu. Lily hielt Eves Hand, und obwohl sie damals beide erst sechs Jahre alt waren, wussten sie, dass Eves Mutter gestorben war.
    Eve beschattete ihre Augen vor der strahlenden Sonne, die schien, obwohl es regnete, und sah zu dem Zimmer hinauf, in dem ihr so viel genommen worden war. Es war das einzige Zimmer im Haus, dem sie keinen letzten Besuch abgestattet hatte. Der Schmerz in ihr war noch viel zu präsent, denn in demselben Zimmer war vor nur elf Monaten auch ihr Vater gestorben. Diesmal war Eve dabei gewesen, und die Hand, die sie gehalten hatte, war nicht Lilys, sondern seine gewesen.
    Er starb an einem Oktobermorgen nach kurzer, schwerer Krankheit. Er war
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