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Niemand kennt mich so wie du

Niemand kennt mich so wie du

Titel: Niemand kennt mich so wie du
Autoren: Anna McPartlin
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Lily selbst nie auf die Idee gekommen wäre, Dublin zu verlassen, um aufs College zu gehen. Declan dagegen wollte unbedingt nach Cork. Eve hielt das für eine Ausrede, denn es war allgemein bekannt, dass es leichter war, an der UCC unterzukommen als an der UCD. Lily hätte die Aufnahme an der UCD oder am Trinity oder sogar am College of Surgeons mühelos geschafft, aber Declan würde schon alle Hebel der Welt in Bewegung setzen müssen, um auch nur in Cork aufgenommen zu werden. Sie hatten sich deswegen ernsthaft gestritten, doch Lily blieb stur und bestand darauf, sich am gleichen College zu bewerben wie Declan. Da Eve sowieso nach London gehen würde, so Lilys Argument, könne ihr schließlich völlig egal sein, wo Lily studierte, und so ließ Eve das Thema schließlich fallen. Und doch …
    Es waren verheißungsvolle, aufregende Zeiten, und der einzige echte Unterschied zwischen den beiden Mädchen war die Tatsache, dass Lily verzweifelt erwachsen werden wollte, während Eve die Veränderungen nur widerwillig akzeptierte. Jener Sommer vor zwanzig Jahren hätte eigentlich ihr letzter gemeinsamer Sommer werden sollen, doch dann musste Lily Geld fürs College verdienen, und die einzige Möglichkeit dazu bestand darin, 366 Kilometer und eine ganze Welt weit entfernt im Süden des Landes im Restaurant ihres Onkels zu jobben. In den Jahren, die folgten, fragte Eve sich oft, was gewesen wäre, wenn sie Lily nachgereist wäre. Wären wir dann Freundinnen geblieben? Eve musste lächeln, als ihr das kleine Mantra wieder einfiel, das sie sich jeden Abend vor dem Einschlafen vorgesagt hatte. Gute Nacht, Lily. Ich vermisse dich, ich vermisse dich, ich hab dich lieb. Und kam zu dem Schluss, dass Teenager nicht ganz dicht waren.
    Von ihrem alten Schreibtisch ging der Blick hinaus auf den Garten hinter dem Haus, auf die großen alten Bäume und das Schaukelgestell, und weiter zum Fenster des leeren Zimmers von Terry dem Touristen im Nachbarhaus hinüber. Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Seine Familie war nach dem Schulabschluss umgezogen, und Gar hatte ihr erzählt, dass Terry inzwischen in England als Pressefotograf arbeitete, was ziemlich naheliegend war. Wozu in Kriegsgebieten Tote fotografieren, wenn man genauso gut das Kleid von irgendeinem Star vor dem Ivy ablichten kann?
    Gedankenverloren fuhr Eve mit dem Finger die verblassten Buchstaben nach, die sie einst in mühevoller Kleinarbeit in die hölzerne Tischplatte geritzt hatte: BGML. Ben «Glenn Medeiros» Logan war im gleichen Moment in Eves Leben getreten, als Lily daraus verschwunden war. In jenem Sommer vor zwanzig Jahren hatte Eve sich verliebt, einen großen Fehler begangen, die Wahrheit gesagt, ihre beste Freundin verloren und war erwachsen geworden.
    Das Haus war leer geräumt und der alte Schreibtisch das letzte Möbelstück, das die Umzugsleute aus dem Haus tragen würden. Sie machten gerade Pause, saßen auf der Ladefläche ihres Lastwagens und aßen Wurstbrötchen, während Eve ein letztes Mal das Haus durchstreifte, in dem sie aufgewachsen war. Sie verließ ihr altes Zimmer und ging die Treppe hinunter. Der rote Anstrich war verblasst, und dort, wo die Familienfotos gehangen hatten, waren unterschiedlich große, leuchtend rote Flecken an der Wand. Die Bilder hingen nicht mehr dort, doch Eve hatte sie trotzdem ganz deutlich vor Augen. Es gab ein ovales von ihrer Mutter, ihrem Vater, Clooney, Eve und Lily. Sie war zwei Jahre alt und saß auf den Schultern ihres Vaters. Eves Mutter hatte die Arme um den vierjährigen Clooney geschlungen, und Lily hielt Clooneys Hand. Es war ein Sommer in den Siebzigern, sie standen sommersprossig unter einem riesigen blauen Himmel, und bis auf Eve lächelten die Anwesenden breit wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland. Über dem ovalen Fleck hatte früher ein Foto von Clooney und Eve gehangen, Arm in Arm in ihren Schuluniformen, aufgenommen an Eves erstem Tag an seiner Grundschule. Clooney sah aus, als würde er sich furchtbar freuen, und hielt Eve fest gedrückt, nur dass er dadurch wirkte wie ein Grizzlybär mit seiner Beute. Eve war unglücklich und versuchte, sich zu befreien. Den Platz des größten roten Rechtecks hatte früher das Familienporträt eingenommen, das Eves Vater in Auftrag gegeben hatte, als ihre Mutter krank geworden war. Die Familie saß im Sonntagsstaat aufgereiht auf dem Sofa. Mum saß am einen Ende, Dad am anderen, und Clooney und Eve dazwischen. Clooney hielt seine Schwester an der Hand, und
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