Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niemand hört dich schreien (German Edition)

Niemand hört dich schreien (German Edition)

Titel: Niemand hört dich schreien (German Edition)
Autoren: Mary Burton
Vom Netzwerk:
sie hinunter ins seichte, kalte Wasser und schoss noch mehr Fotos. Sie fertigte Zeichnungen an und machte sich Notizen.
    Jacob betrachtete das Opfer eingehend, während die Kamera blitzte. Er versuchte, sich in die Frau hineinzuversetzen, so zu denken, wie sie es getan hatte.
    Ihre Schuhe und Kleidung wirkten vernünftig, fast schon bieder. Die Haare trug sie offen, doch er vermutete, dass sie sie normalerweise zu einem Pferdeschwanz zurückband. Ein derart praktischer Stil hätte auch zu ihren Nägeln gepasst, die sauber, kurz geschnitten und unlackiert waren. Der Schal um ihren Hals war ordentlich geknotet.
    Sie sah aus wie eine Bibliothekarin. Wie eine Kirchgängerin, jemand, der immer auf der richtigen Straßenseite ging. Sie war die Art Mensch, deren Verschwinden auffallen würde.
    Die Kälte kroch Jacob in die Glieder, und er wurde langsam unruhig. Er verlagerte sein Gewicht auf den anderen Fuß und versuchte, die Blutzirkulation in Gang zu bringen. Sengende Hitze oder Feuchtigkeit empfand er als nicht weiter tragisch, doch die Kälte machte ihn fertig.
    Jacob sah zu der Gruppe Landvermesser hinüber. »Ich rede mal mit den Leuten.«
    Zack nickte. »Okay.«
    Der gefrorene Boden knirschte unter Jacobs Schritten, als er die Böschung erklomm. Er blieb vor den Männern bei dem schwarzen Geländewagen stehen.
    Ein großer Mann im Zentrum der Gruppe nickte ihm zu. Er wog mindestens hundert Kilo, hatte einen auffallend dichten, schwarzen Bart und ein Tattoo von einem gefallenen Engel am Hals. Die anderen Vermesser sahen jünger aus, zwischen zwanzig und dreißig, und ihre geröteten Augen ließen darauf schließen, dass sie letzte Nacht schwer gebechert hatten.
    »Wer von Ihnen hat die Leiche gefunden?«, fragte Jacob.
    Der Große antwortete ihm. »Ich. Ich bin der Truppleiter.«
    »Wie heißen Sie?«
    »Frank Burrows.« Er sprach den Nachnamen schleppend aus, mit schwerem Südstaatenakzent, was die Vermutung nahelegte, dass er aus dem Südwesten Virginias stammte.
    »Erzählen Sie mir der Reihe nach, was Sie gesehen haben«, sagte Jacob.
    Der Mann runzelte angestrengt die Stirn und warf einen Blick zum James River hinüber, bevor er Jacob ansah. »Ich war gerade dabei, die Vermessung am Fluss entlang vorzubereiten. Rob hier«, er deutete mit dem Daumen auf den Mann zu seiner Rechten, »war ein paar Schritte hinter mir.«
    Rob wechselte das Standbein. »Ich musste mal pinkeln.«
    Burrows verdrehte die Augen. »Ich hatte gerade das Stativ aufgestellt, da hab ich den Mantel von der Frau gesehen. Ich dachte, er wäre vom Sturm angeschwemmt worden. Wir finden dauernd irgendwelches Zeug im Wasser – Reifen, Schuhe, Kleidung, Möbel. Ich bin also rüber, um ihn mir genauer anzusehen. Als ich gemerkt hab, dass es eine Frau war, habe ich die Rettungsstelle angerufen.«
    »Haben Sie sie angerührt?«
    Burrows verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein, verdammt. Sie hat nicht so ausgesehen, als würde sie atmen, und ich wollte nicht so nah rangehen.«
    »Sie haben nicht den Puls gefühlt?«
    Burrows zog die Nase hoch und schien innerlich in Verteidigungshaltung zu gehen. »Nein.«
    »Hat einer Ihrer Leute sie angerührt?«
    »Nein.«
    Jacob sah die Männer an. »Haben Sie irgendjemanden in der Nähe gesehen, der nicht hierher gehört?«
    Alle schüttelten den Kopf.
    Burrows ergriff das Wort. »Das hier ist kein Ort, wo die Leute im Winter einfach so zum Spaß hinkommen. In einem der Bäume gibt es einen alten Hochsitz, es waren also manchmal Jäger hier. Das war allerdings früher, bevor Alderson das Gelände gekauft hat. Wir haben ein paar illegale Müllkippen gefunden, aber die meisten waren schon ein paar Monate alt.«
    »Es hat sich niemand hier herumgetrieben?«
    »Mit dem Auto kommt man nur über die Straße hierher, auf der Sie gekommen sind. Sie endet ungefähr hundert Meter hinter dem Abzweig.«
    »Wie sieht es mit Reifenspuren auf der Straße aus? Haben Sie irgendwas Ungewöhnliches oder Verdächtiges gesehen?«
    »Schwer zu sagen, welche Spuren von uns sind und welche von jemand anderem. Und der Schnee letzte Nacht hätte sowieso alle neuen Spuren zugedeckt.«
    »Was ist mit dem Zugang vom Fluss her?«
    »Ein Boot mit flachem Kiel könnte hier fahren, aber wir haben keins gesehen.« Burrows zupfte nervös an einem Faden, der vom Saum seiner Jacke herabhing.
    »Stimmt was nicht?«, fragte Jacob.
    Ein Lachen, das ein halbes Fluchen war, platzte aus Burrows heraus. »Was glauben Sie denn? Ich habe auf meiner
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher