Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus
Autoren: Blake Charlton
Vom Netzwerk:
Azure steckte ihr Köpfchen aus dem Mantelnest, um für beide zu schauen. »Was für eine herrliche Aussicht!«, sagte der alte Zauberer, und ein Lächeln erschien auf seinem verknitterten Gesicht.
    In der Ferne strahlte der Erasmusturm im Glanz der untergehenden Sonne. Allmählich beruhigte sich Shannons Atmung wieder.
    Aus der Turmspitze schoss ein Colaboris-Zauber hervor und verschwand am östlichen Horizont in der heraufziehenden Nacht.
    »Eingesperrt in einer Lehranstalt erlebt ein Junge seine Unvollkommenheit«, sagte Nicodemus leise. »Er sieht andere leiden. Wirft einen Blick auf sein wahres Wesen und flieht. Doch ganz gleich, wohin er sich wendet, wohin er auch geht, dem Leid entkommt er nicht. Dennoch strebt er weiter danach, das Leid zu besiegen.«
    Shannon schwieg eine ganze Weile. »Weißt du, dass ich mit dem Geisterschreiben begonnen habe?«, fragte er schließlich.
    »Wenn Ihr schlaft, schimmert über Eurem Kopf eine eindrucksvolle Matrix«, entgegnete Nicodemus, ohne ihn anzusehen. »Ebenso in Azures Geist. Ich glaube, es hat etwas mit den Träumen zu tun. Sind Eure Geschwüre schlimmer geworden?«
    Um sie genau zu studieren, müsste er den alten Mann berühren, und das wagte er nicht.
    Shannon holte tief Luft. »Nein. Ehrlich gesagt, geht es mir besser als zuvor. Aber ich nehme an, dass das nur ein vorübergehender Zustand ist. Schwer zu sagen. Ich bin mir sicher, dass wir den Smaragd rechtzeitig finden werden, um den wachsenden Schwulst in meinemBauch zu heilen. Doch … ich möchte nicht, dass es mich unvorbereitet trifft. Ich habe mit dem Geisterschreiben begonnen … als Vorsichtsmaßnahme.«
    Nicodemus nickte. »Es ist also ein Wettlauf zwischen meiner Ausbildung und Eurer Krankheit. Verliere ich, sterbt Ihr.«
    Shannon seufzte. »Es ist kein Wettlauf, Nicodemus. Um den Krieg der Sprachen aufzuhalten, musst du an deinen Primuskenntnissen arbeiten. Das ist eine Aufgabe, die du alleine bewältigen musst, ich kann dir dabei nicht helfen. Und nun, da der Index verschrieben ist, bist du der Einzige, der ihn benutzen kann, um mehr über Taifon in Erfahrung zu bringen. Das wird Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte dauern. Wenn du verfrüht das Tal verlässt, wirst du dich den Dämonen nicht entgegenstellen können. Du wirst nur dein Leben verlieren.«
    »Magister, die Kobolde sagen, sie hätten nie einen mächtigeren Zauberschreiber erlebt. Und ich befehlige eine kleine Armee von Kriegern.«
    Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Die Kobolde verlassen ja fast nie ihre Unterwelt, und auf dem Schlachtfeld könnte eine Koboldarmee auch nicht viel ausrichten. Und Nicodemus, du kannst deine Magie nur im Dunkeln einsetzen. Du musst weiter die Zauberersprachen üben, ohne sie ist es sinnlos, hinter Deidre und dem Smaragd herzulaufen, denn früher oder später werden Taifon und deine Halbschwester dahinterkommen, dass du bei Tageslicht keine Macht hast.«
    »Ich werde nicht einfach tatenlos zusehen, wie Ihr sterbt«, setzte ihm Nicodemus entgegen. »Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.«
    Shannon öffnete den Mund, als ob er ihm widersprechen wollte, doch dann schüttelte er nur ratlos den Kopf. Beide verstummten.
    Langsam verschwand die Sonne hinter dem Horizont, und am Himmel zeigten sich die ersten Sterne. Der Wind hatte aufgefrischt und pfiff durch die kahlen Zweige.
    »Nicodemus, du hast Starhaven nicht hinter dir gelassen«, sagte Shannon. »Du glaubst, du seist jetzt hier draußen und deine Kraft läge in den chthonischen Texten oder deiner Fähigkeit, Truppenzu führen. Ohne den Smaragd hältst du dich für unvollkommen. Du willst nicht begreifen, dass deine wahre Stärke schon immer in dir war. Und deshalb bist du im Grunde genommen immer noch in der Akademie.« Mit dem Kopf deutete er auf die Turmspitze. »Du läufst immer noch vor dem Golem davon.«
    Schweigend presste Nicodemus die Lippen aufeinander.
    »Begreif doch, dass du bereits vollkommen bist.«
    Nicodemus schüttelte den Kopf. »Ihr liegt im Sterben. Deidre ist versklavt. Mein Lebensziel ist es, den Smaragd zurückzubekommen und meine Schwäche zu überwinden. Bis dahin ist überhaupt nichts vollkommen.«
    Shannon wollte ihm widersprechen, ließ es dann aber bleiben.
    Schweigend saßen sie beieinander.
     
    Wirbelnd erfasste ein eisiger Wind Nicodemus und Shannon und brauste weiter nach Norden. Er toste um die weißen Berge und teilte sich an den zahllosen Türmen Starhavens. Heulte über die Brücken und hüllte die Wasserspeier, die die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher