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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus
Autoren: Blake Charlton
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zunehmend düstere Stimmung, seit das Leben im Tal einen neuen, eiligeren Rhythmus angenommen hatte. Nicodemus kam immer erst gegen Morgen nach Hause gewankt. Oft war er blutverschmiert und sprudelte über von Erlebnissen. In einer Nacht hatte er gelernt, wie man eine Stadtmauer mit Hilfe von chthonischen Zaubern erklimmt; in der nächsten, wie man die Flanke eines Feindes umgeht, ein feindliches Lager angreift oder ähnlich blutrünstige Taten.
    Auch machte Nicodemus die Erfahrung, dass ihn die Kobolde für kurze Zeit anfassen konnten. Ihre blaue Haut war gegenüber seiner Berührung außerordentlich widerstandsfähig. Sie konnten die Geschwülste einfach abreißen, und bis auf ein paar Tropfen Blut geschah nichts weiter. Obgleich der Hautkontakt nur während eines Kampfes stattfand, war Nicodemus dennoch außerordentlich erleichtert, ein Wesen berühren zu können, ohne es gleich umzubringen.
    Nachdem er vom nächtlichen Kriegsspiel berichtet hatte, schlief Nicodemus für gewöhnlich bis zum späten Nachmittag und studierte dann mit Shannon die Zaubersprachen.
    Doch mit seiner Kakographie wurde es tatsächlich immer schlimmer. Seine Rechtschreibübungen blieben ohne Erfolg. Und wenn er einen eigenen Zauber verfassen sollte, schrieb er sich zunächst einmal eine Probetätowierung auf den Arm, bevor er sich an der Zaubererversion versuchte.
    An manchen Tagen gab Shannon verzweifelt auf und unternahm statt des Unterrichts mit Nicodemus lange Spaziergänge durchs Tal. Er erzählte seinem Schüler von seiner Kindheit, seinem diplomatischen Dienst während des Spirischen Bürgerkriegs, seiner katastrophalen Liebe und dem Verlust seiner Frau. Nicodemus hörte aufmerksam zu. Und zuweilen war Shannon überrascht, dass sein Schüler ihm Trost spenden konnte. In diesen Momenten fühlte sich der alte Mann besonders leer. Zudem überkam ihn immer öfter eine bleierne Müdigkeit. Nach dem Essen hatte er häufig Bauchschmerzen und Probleme mit der Verdauung. Je kälter es wurde, desto mehr Zeit verbrachte er schlafend vor dem Feuer.
    Eines Tages fühlte er sich sogar zu schwach, um mit Nicodemusspazieren zu gehen. Daraus entwickelte sich ein Streit: Nicodemus beharrte darauf, es schon bald mit Taifon aufnehmen zu können. Shannon hingegen wollte davon nichts hören und machte ihn darauf aufmerksam, dass seine chthonischen Sprachen nur im Dunkeln funktionierten und weder Taifon noch seine Halbschwester ihm den Gefallen tun würden, nur nachts anzugreifen.
    Shannon versuchte ihm klar zu machen, wie wichtig es sei, sich Primus zunutze zu machen und den Index für die Suche nach Taifon einzusetzen. Schließlich war Nicodemus wutentbrannt aus dem Haus gestürmt und hatte gebrüllt, er würde nicht einfach nur tatenlos zusehen, wie Shannon sterbe, wo es doch die Möglichkeit gebe, den Smaragd zurückzuholen.
    Am Abend entschuldigten sich beide, doch es kam zu keiner Einigung.
    Für Shannon waren die glücklichsten Momente, wenn er etwas von dem alten Nicodemus aufblitzen sah. An einem kalten Nachmittag im Spätherbst rieselten die ersten Schneeflocken durch die Äste des Himmelbaums. Shannon und Nicodemus rüsteten sich für eine Schneeballschlacht. Azure übernahm das Sehen für Shannon, und Boann, der die Handfestigkeit fehlte, um einen Schneeball zu halten, fiel die Rolle der Schiedsrichterin zu. Doch die Flocken auf dem Boden waren so spärlich, dass sie sich auf ein traditionelles Jejunus-Wettfluchen verlegten. Shannon, der als Linguist über ein großes Repertoire schmutziger Ausdrücke verfügte, gewann bei diesem Spiel mit Leichtigkeit.
    Im Verlauf seiner kriegerischen Ausbildung verlor Nicodemus zunehmend seinen jungenhaften Schalk. Er freundete sich mit den Kobolden an, fasste, wie unter Soldaten üblich, Vertrauen zu ihnen. Das war eine Art von Vertrautheit, die Shannon nie kennengelernt hatte.
    Nicodemus sprach unentwegt von dem Turnier zu Neumond, einem feierlichen Stammestreffen aller Kobolde. In der Dreineumondnacht krochen alle Kobolde aus ihren Schlupfwinkeln hervor und versammelten sich auf einem unterirdischen Plateau im Pinnacle-Gebirge. Hier hatte einst die Hauptstadt der Kobolde gelegen, bevor sie durch das Neosolare Reich zerstört worden war.
    Jeder Stamm schickte zehn Krieger in die verfallene Stadt, um Jagd auf einen goldenen Ast zu machen, den ein Koboldpriester zuvor versteckt hatte. Die Mannschaft, die mit dem goldenen Ast zurückkehrte, durfte ein Jahr lang die Krone der letzten Koboldkönigin
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