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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Autoren: Undine Zimmer
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Hochzeitsporträt von meinen Eltern gab, haben sie es nicht für nötig gehalten, es für mich aufzubewahren. Das Foto ist mit einer gewöhnlichen Polaroid-Kamera geschossen.
    Mein Vater trägt einen Vollbart und guckt als Einziger in die Kamera. Er hat eine weiße Jeans mit weitem Schlag an, ein hellblaues Hemd und einen dunklen Cordblazer, der immer noch bei ihm im Schrank hängt. Er hält meine Mutter an der Hand. Es ist das einzige Bild, überhaupt das einzige Mal, dass ich meinen Vater meine Mutter an der Hand habe halten sehen. Dieses eine Mal scheint er sie ganz fest zu halten. Meine Mutter guckt nach unten auf die Treppe. Sie trägt flache Sandalen, »Jesuslatschen«, und ein gerade geschnittenes weinrotes Kleid mit Silberstickerei. Es ist ein türkisches Hauskleid, das sie einmal von einer Freundin geschenkt bekommen hat. Es war das schönste und ungewöhnlichste Kleid, das in ihrem Schrank hing. Zur Hochzeit ist der Kontakt zu der Freundin schon abgebrochen, sie lebt wieder in ihrer Heimat oder irgendwo in Deutschland. Die Haare meiner Mutter fallen ihr glatt, ohne Schmuck, auf die Schultern.
    Ihr zur Seite stehen die Mutter meines Vaters und die Trauzeugin, Anabell, eine Studienkollegin meiner Eltern vom Berlin-Kolleg. Oma und Anabell sind richtig zurechtgemacht. Oma trägt eine glänzende Bluse und einen Rock, Anabell ein weißes Kleid, ein richtiges Kleid mit kleinem Petticoat, und sie hat Stöckelschuhe an den Füßen. »Auf dem Standesamt dachten alle, sie sei die Braut«, hat meine Mutter mir erzählt. Sollte sie sich darüber geärgert haben, dann hat sie das zu verstecken verstanden. Meine Mutter antwortet heute noch genervt, wenn ich sie nach diesem Tag frage. Sie war schon schwanger, als sie die Treppe vom Standesamt hinunterging. Nach der standesamtlichen Trauung traf sich die Familie im Rathauskeller, um miteinander anzustoßen. Meine Tante und mein Onkel waren nicht dabei. Sie kamen erst später zum gemeinsamen Kaffeetrinken dazu. Es muss eine traurige Hochzeit gewesen sein.
    Mein Vater hat mir erzählt, er hätte meine Mutter nie richtig geliebt. Als sie ihm sagte, dass sie schwanger ist, da wollte er nichts von seiner Verantwortung wissen. Er hatte es ja nicht einmal geschafft, selbst erwachsen zu werden und sein Leben in die Hand zu nehmen. Aber dann auf einem Spaziergang im Schlossgarten Charlottenburg haben sie sich entschieden, es doch als Familie zu versuchen. Vielleicht war es ein anrührender Moment, in dem die Sonne meiner Mutter ins Haar schien. Vielleicht brachte mein Vater es doch nicht übers Herz, mit seinem eigenen Kind nichts zu tun haben zu wollen. Vielleicht war es der tiefe Wunsch, etwas Richtiges zu tun, ein »Zusammen« zu versuchen, obwohl mein Vater schon damals genau wusste, dass er ein Eigenbrötler war. Meine Mutter hat manche seiner Schwächen anfänglich als Stärken ausgelegt. Vielleicht hat mein Vater ja selbst daran geglaubt. Das Lächeln in seinem Gesicht sieht danach aus. Aber er war überhaupt nicht auf eine Beziehung vorbereitet. Nicht bereit, einer Frau, die große Unsicherheit in sich hatte, die fehlende Selbstbestätigung zu geben. Er war gerade ein Jahr vorher aus der Nervenklinik entlassen worden. Er hatte Angstzustände gehabt. Er wollte gern auf Gesellschaften und Partys gehen und junge hübsche Frauen treffen. Aber zu Hause wollte er auch allein sein. Er konnte meiner Mutter kein Partner sein. Er brauchte selber Hilfe. Und meine Mutter konnte ihm nicht helfen, sie verstand ihn gar nicht.
    Im Gegensatz zu meiner Mutter kann mein Vater pragmatisch über alles Vergangene reden. Vielleicht, weil er eigentlich nicht über Gefühle sprechen kann. Aber meine Mutter hält ihre Geschütze immer noch schussbereit, gegen die Kränkungen und Enttäuschungen, die mein Vater verursacht und die sie nie ganz überwunden hat. Beide zeigen mir mit ihrem Alltag zwei Lebensmodelle, die für mich jenseits einer Normalität liegen, wie ich sie mir wünsche. Die Geschichte meiner Eltern ist für mich eine der traurigsten Liebesgeschichten überhaupt. Vielleicht weil es eigentlich nicht mal eine Liebes-, sondern eine Verzweiflungsgeschichte zweier einsamer, sich nach Geborgenheit sehnender Menschen ist, die nie zu einem Happy End kam, nicht einmal für einen von beiden. Mein Vater würde mir vermutlich zustimmen, meine Mutter sich gegen diese negative Interpretation wehren.
    Das Verhältnis zu meinen Eltern ist lange nicht einfach gewesen. Ich habe mich unverstanden gefühlt
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