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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Autoren: Undine Zimmer
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Vorbild das Streben nach Bildung und Wahrheit, unabhängig von Sponsoren und »Drittgeldern«, zu finden sein sollte?
    »Nun ja, uns bleibt zumindest eine Exzellenz«, versuche ich einen Witz, als meine Mutter mir noch eine Tasse Tee einschenkt und ein Stück Hefezopf hinstellt. »Wir sind exzellent in unserer Kenntnis, was Knappheit an Geld für das Leben bedeutet.« Im Hintergrund läuft Deutschlandradio Kultur. Meine Mutter blättert in einem der soziologischen Wälzer, die ich seit einigen Monaten immer mit mir herumschleppe. »Das klingt ja hochaktuell und geradezu brisant«, sagt sie, als sie auf das Kapitel »Plädoyer für eine überfällige Soziologie der Arbeitslosigkeit« von Martin Kronauer, Berthold Vogel und Frank Gerlach stößt, das die drei 1993 publiziert haben. Darin appellieren sie an die Politiker, die gesamtgesellschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit zu bedenken und eine Schicht von Dauerarbeitslosen nicht als Normalität hinzunehmen. Was die drei Forscher damals noch eher prognostizierten, wurde in den Folgejahren mehr und mehr Realität. Eine Realität, die man im Vierten Armutsbericht, der jüngst erschien, sprachlich ein bisschen zu retuschieren versucht. An der wachsenden Zahl von Transferempfängern, Leiharbeitern und Aufstockern ändert sprachliche Kosmetik allerdings nichts. An der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaft, in der viele immer weniger und wenige immer mehr haben, auch nichts.
    *
    Ich gucke auf mein fast fertiges Manuskript und denke zurück an meine Begegnungen mit den Mitarbeitern des Jobcenters und die Geschichten, die meine Eltern, Freunde und Bekannte dort erlebt haben. So viele Bemühungen. So viele junge freundliche Sachbearbeiter. Und so viel Unbehagen an dem sich immer wiederholenden organisatorischen Versagen der Behörde, das sich für die Betroffenen wie Schikane anfühlt. »Der größte Dienstleister auf dem deutschen Arbeitsmarkt« steht auf der Homepage der Bundesagentur für Arbeit. Wem genau leistet die Bundesagentur ihre Dienste? Irgendjemand muss doch alles überblicken und an den Fäden ziehen. Wer ist dieser Jemand? Was will er? Wo hat er seine Ausbildung gemacht und wie sieht seine Leistungsbilanz aus?
    Immer noch finden so viele, die Arbeit oder Weiterbildung suchen, im Jobcenter kein passendes Angebot. Auf der Seite »jobcenter-ich-bin-gut.de« finde ich ein Quiz: »Die 5 größten Irrtümer über Hartz-IV-Empfänger und was die wahren Fakten sind«, illustriert mit Herzen und anderen gutgelaunten graphischen Elementen. Die Irrtümer sind: 1. Hartz-IV-Empfänger wollen nicht arbeiten; 2. Hartz-IV-Empfänger suchen nicht selbst aktiv nach Arbeit; 3. Hartz-IV-Empfänger sind bei der Arbeitssuche wählerisch; 4. Hartz-IV-Empfänger haben nichts Sinnvolles zu tun und 5. Hartz-IV-Empfänger sind schlecht qualifiziert. Das Quiz ist eine knappe und etwas verspätete Antwort der Bundesagentur für Arbeit auf die 33-seitige Anklageschrift, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit 2005 unter dem Titel »Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ›Abzocke‹ und Selbstbedienung im Sozialstaat« veröffentlicht hat. Darin ließ sich der damalige Minister Wolfgang Clement darüber aus, wie arbeitsfaule Bürger die »Melkkuh Sozialstaat« ausnähmen. Statistische Belege brauchte er, der sonst gern in Talkshows mit Zahlen um sich warf, dafür nicht.
    Neben dem Quiz rechts kann ich auf eine Mutmach-Rubrik klicken »Erfolgsgeschichten aus Deutschland, die Mut machen. Jetzt downloaden«. Na also: Zumindest die Marketingabteilung der Bundesagentur funktioniert offensichtlich wie geschmiert. Von der Internetseite und den optimistisch gestalteten Flyern blicken mich junge Menschen lächelnd und geschäftig an, als ob sie mir sagen wollten: »Siehst du, wer sucht, der findet.« Doch obwohl es Kurse, Weiterbildungsmaßnahmen, Förderungen, die E-Lernbörse und eine ausgebaute Internetplattform mit Jobportal gibt, rufen solche Einrichtungen bei den Kunden des Jobcenters, die ich persönlich kenne, nur noch ein Schulterzucken hervor. Weil die finanziellen Mittel für die Förderungen gerade ausgeschöpft oder weil die Angebote an Bedingungen geknüpft sind, die die Suchenden nicht erfüllen.
    In der Privatbibliothek einer alternativen Wohngemeinschaft habe ich ein Buch entdeckt: »Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus« von dem Schweizer Soziologen Kurt Wyss. Einzelne Passagen lesen sich wie eine von
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