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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Autoren: Undine Zimmer
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gleichen Lehrmittel zur Verfügung hat, dass es Lehrmittelbefreiung und kostenlos zugängliche Bibliotheken gibt. Selbst wenn sie persönlich nicht aus privilegierten finanziellen Verhältnissen kommen, sagen sie: »Wir leben doch in Deutschland. Hier hat jeder die gleichen Chancen. Man muss sie nur nutzen.« Wenn ich das höre, will ich immer widersprechen, schließlich weiß ich, dass es so einfach nicht ist, aber es fällt mir schwer, meinen Widerspruch zu begründen und ihn mit konkreten Beispielen zu untermauern.
    Von Seiten der anderen, die erst als Jugendliche oder zum Studium nach Deutschland gekommen sind, klingt es ganz anders. Sie reden nicht von Bibliotheken, sondern von dem niederschmetternden Gefühl, trotz aller Anstrengungen, Begabungen und trotz ihres Fleißes nicht weiterzukommen. »Hier wirst du doch eh nichts«, sagen sie. Sie fühlen sich nach Äußerlichkeiten beurteilt, ihrem Namen, ihrem Akzent, ihrem Herkunftsland und danach, dass sie mit bestimmten deutschen Formalitäten nicht vertraut sind. Dem Bewerbungsjargon zum Beispiel.
    Auch wenn ich weiß, dass es für sie hierzulande oft schwer ist, mag ich ihr vernichtendes Urteil dennoch nicht teilen. Aber auch ihnen gegenüber fällt es mir schwer, ihre Argumente zu widerlegen und konkrete Gegenbeispiele zu finden. Vielleicht weil ich auch an mir selbst oft diesen Mangel an Motivation beobachten kann, der durch jede noch so kleine Niederlage genährt wird, bis er in Frust und Rückzug umschlägt. Ich kann das Gefühl der Mutlosigkeit und die Wut, die darauf folgt, nur zu gut verstehen.
    Ich bin keine Sozialwissenschaftlerin. Wissenschaftliche Studien zu den Folgen von Armut und gesellschaftlichem Ausschluss gibt es zuhauf. Ich wollte mit diesem Buch eine ganz andere Geschichte erzählen, aus dem Innenleben einer solchen Randexistenz berichten, von den vielen alltäglichen Begebenheiten, den einschränkenden wie auch den befreienden, von den Rückschlägen wie den Aufbrüchen, den Abweisungen wie den Unterstützungen, die ich erfahren habe. Manchmal kommt mir die Entscheidung meiner Eltern, mich Undine zu nennen, wie ein Omen vor: Ich kenne beide Welten, die der oft Mutlosen wie auch die der Optimisten und Verteidiger dieser Gesellschaft. Ich kenne ihr Misstrauen gegeneinander, ihre wechselseitige Unkenntnis, ihre Vorurteile übereinander, aber auch ihre jeweiligen Argumente, von denen manche durchaus überzeugend sind. Ich fühle mich weder bei den einen noch bei den anderen aufgehoben. Würde ich an ein Kismet glauben, dann müsste ich in meinem Hin- und Hergerissensein vielleicht die mir auferlegte Bestimmung erkennen: Undinen sind Grenzgängerinnen zwischen den Welten, in keiner wirklich zu Hause, in keiner werden sie erlöst. Vielleicht aber, das hoffe ich, können sie gerade deshalb der einen Welt von der jeweils anderen erzählen, Übersetzerinnen sein, aufklären und vielleicht sogar ein bisschen Mut machen.
    *
    »Undin’, worüber denkst du nach?«, weckt mich meine Mutter aus meinen Tagträumen und will mir schon wieder Kamillentee nachgießen. »Wenn ich lese, was ich geschrieben habe, dann fühle ich mich auf einmal sehr verletzlich«, sage ich und gucke meiner Mutter ernst in die Augen. »Bist tapfer«, ermutigt sie mich, und diese Worte fühlen sich ungewohnt altmodisch an. Ich betrachte sie, als sie nun aufsteht und die Arme ganz hoch in die Luft reckt, um die ganzen Diskussionen von sich abzuschütteln, so wie sie es immer macht, wenn sie zu lange still gesessen hat. »Puh!«, seufzt sie. »Ich bin sehr erleichtert, wenn das alles vorbei ist.« Sie meint das ganze Grübeln und die Aufregung um das Manuskript. Für heute legen wir die Blätterstapel endgültig zur Seite.

DANKSAGUNG
    Ich danke meinem Vater und meiner Mutter, die dieses Buch mit mir zusammen verfasst und mich beim Schreiben ermutigt und aufgefangen haben; meinem Begleiter und Tröster Jawed Nayebi; Lieselotte Pilser und den Bewohnern der Morgensternstraße in Bern für die tiefen soziologischen Gespräche und den Arbeitsplatz in ihrer hauseigenen Bibliothek; Heike Faller, Die Zeit; Gila Keplin, Agentur Simon, und Nina Sillem, S. Fischer Verlag, die das Buch haben Wirklichkeit werden lassen; und ganz besonders meiner Lektorin Ingke Brodersen, die meinen Text verstanden, geschliffen und poliert hat, bis er von allem Wortstaub befreit war.

Über Undine Zimmer
    Undine Zimmer, geboren 1979, studierte in ihrer Heimatstadt Berlin Skandinavistik, Neuere Deutsche
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