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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Autoren: Meral Al-Mer
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zwischen meiner Mutter, Fatus und mir Gespräche eröffnen, über das, was Frauen in ihrer Körperlichkeit ausmacht.
    Schließlich wage ich es auch, eine Idee auf den Tisch zu bringen, die mich schon eine ganze Weile beschäftigt. Ich frage Saliha, ob sie dazu bereit wäre, für eine Fotoserie mit mir die Kleider zu tauschen. Tagelang habe ich darüber nachgegrübelt, wie ich das am besten vorschlage, und nun, als ich es endlich wage, sagt Saliha ganz spontan und freudig Ja.
    Wir gehen in ihr Zimmer und ziehen uns aus, tauschen die Kleider, und mit jedem Stück, das wir anlegen, schlüpfen wir ein bisschen mehr in die Rolle der anderen. Jedenfalls mir geht es so.
    Eine Minute später stehen wir im Rapsfeld hinter dem Haus, in der Ferne sieht man einen Gebirgszug, der schon zu Syrien gehört, wo gerade die Menschen flüchten und Frauen ihre Väter, Ehemänner und Söhne verlieren. Jetzt trägt meine Mutter Baggy Pants und mein gestreiftes Shirt mit aufgenähtem Anker-Button. Ich stehe neben ihr im langen Rock, ihrem Langarmshirt und dem Kopftuch, und wir fühlen uns beide wohl.
    »Wow«, sagt Beate, die die Fotos macht. »Ihr seht toll aus. Und jede so völlig verwandelt!«
    Sie hat recht. Saliha sieht mit einem Mal um zehn Jahre jünger aus, als sie ist. Ohne Scheu trägt sie ihr Haar offen und unbedeckt. Ihre einzige Sorge ist, dass die Nachbarn, wenn sie sie sähen, denken könnten: »Jetzt ist die Saliha endgültig verrückt geworden.«
    Wir fühlen uns beide sehr wohl in der Rolle der anderen. Und meine Mutter ist wirklich erstaunlich mit ihrem strahlenden Lachen, ihrem kindlichen Humor (endlich weiß ich, woher ich den habe), ihren lebendigen Augen und ihrer strahlenden Jugendlichkeit.
    Für mich ist dieser Kleidertausch der Beweis dafür, dass meine Mutter mich annimmt, so wie ich bin, ohne Wenn und Aber, genauso wie ich sie. Während wir im Rapsfeld stehen und für die Fotos posieren, denke ich: »Was wir hier tun, ist mehr als ein Klamottentausch. Für einige Momente bin ich sie und sie ist ich.« Und das Überraschende ist: Ich fühle mich wohl in ihrer Haut, ja, fast noch wohler, noch natürlicher als in meiner eigenen.
    »Jetzt bin ich angekommen«, denke ich. »Jetzt habe ich eine Mutter.«

27
Der Segen
    U nd dann beschließen wir, Salihas Vater zu besuchen, nur wir Frauen: Saliha, Fatus, Bediha, Beate und ich. Mein Großvater wohnt in einem winzigen Dorf südlich von Reyhanli, direkt an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei, auf dem Weg nach Aleppo.
    »Gleich hinter dem Dorf verläuft ein Fluss«, erzählt Saliha, »und auf der anderen Seite ist Syrien.«
    Auf dem Weg dahin kommen wir an einem Flüchtlingslager vorbei, und die Journalistin in mir will natürlich Fotos machen. Doch kaum halten wir an, kommt auch schon ein Wachmann angelaufen, der uns vertreibt. Meine Fotos mache ich trotzdem, aus dem fahrenden Wagen.
    Ich bin sehr gespannt auf meinen Großvater. Noch immer trage ich sein Bild in mir, als ich ihn damals vor fast zwanzig Jahren auf dem Souk in Aleppo von Weitem sah, ganz in Weiß gekleidet und mit diesen strahlenden blauen Augen. Als wir uns dem Dorf nähern, fallen mir die Kinder auf; staubig und dreckverschmiert spielen sie ausgelassen mit allem Möglichen: einem kaputten Reifen, einem alten Fahrrad, mit Eseln und Pferden – es ist wie eine Zeitreise zurück in ein anderes Jahrhundert.
    Mein Großvater lebt mit seiner ich weiß nicht wievielten Ehefrau, einer Hebamme, die dreißig Jahre jünger ist als er, in einem typischen arabischen Dorfhaus: Wenn man das Tor durchschreitet, das das kleine Anwesen zur Straße hin abschließt, steht man zunächst in einem großen Innenhof, und von hier aus geht es in die einzelnen Zimmer eines langgestreckten Gebäudes. Hier ist auch Platz für einen Gemüse- und Kräutergarten, eine überdachte Außenküche und den Stall mit Hühnern und Hasen. Mein Großvater ist ein angesehener Mann, ein Hadsch, das heißt, er hat die Pilgerreise nach Mekka unternommen. Und auf einmal steht er vor mir, ein eher kleiner, schlanker, unendlich würdevoller Mann, dem man sein Alter nicht ansieht. Tatsächlich sind seine Augen, die mich jetzt mit einer Mischung aus Rührung und Wachsamkeit mustern, himmelblau.
    »Mein Kind«, sagt er, als er auf mich zukommt, »wir sehen uns heute zum ersten Mal.«
    Und dann schließt er mich fest in seine Arme.
    In einem der Zimmer sind Kissen für uns ausgebreitet, wir nehmen Platz. Und reden. Vor allem Saliha und ihr Vater
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