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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Autoren: Meral Al-Mer
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einzupacken; dabei schaut er mir immer wieder ins Gesicht, so als wollte er es sich einprägen oder vielleicht noch etwas sagen. Ich genieße es, mit ihm gemeinsam etwas zu tun; das ist schön, viel schöner als Reden.
    Und dann sind alle Pflanzen eingepackt. Wir stehen vor dem Tor in einer Runde beisammen. Keiner will den ersten Schritt tun. Aus einem spontanen Impuls heraus trete ich auf meinen Großvater zu und sage: »Ich spreche zwar kaum Arabisch und nur schlecht Türkisch, aber ich will dir sagen, dass ich sehr froh bin, dass wir uns getroffen haben.«
    Wir umarmen uns. Und als wir uns wieder voneinander lösen, da geschieht es. Er legt seine Hand auf meine Schulter, und auf einmal durchfließt es mich warm und sanft. Ich höre, wie er etwas murmelt, und ich kann nicht verstehen, was er sagt, doch das ist einerlei, denn was ich fühle, sagt mir mehr, als Worte es können. Eine kleine Ewigkeit stehen wir so da, herausgelöst aus Raum und Zeit, und ich fühle eine tiefe Verbundenheit, eine Annahme über alles Trennende hinweg. Es ist der Segen, um den ich nicht bitten konnte und der mir dennoch gegeben wird, und in diesen Augenblicken schließt sich der Kreis von meinen Ahnen bis hin zu mir.
    Als mein Großvater die Hand von mir nimmt und ich aufblicke, haben alle Tränen in den Augen. Keiner hat auch nur ein Wort gesprochen, alle haben gespürt, dass da etwas sehr Besonderes zwischen uns geschehen ist.
    Nun können wir uns verabschieden.
    »Möge es dir gut ergehen, mein Kind«, sagt mein Großvater, ehe wir ins Auto steigen. Er winkt uns noch lange nach, bis wir über die holpernde Landstraße in einer Staubwolke verschwinden.
    Und dann kam der Tag, an dem wir wieder Abschied nahmen, Saliha und ich. Kein Wort, dass ich bleiben sollte, kein ernsthafter Versuch, mich zum Heiraten zu bewegen, nur ein paar scherzhafte Vorstöße in diese Richtung.
    »Wenn du länger bleiben würdest«, sagte Saliha zum Beispiel eines Abends lachend, »dann würden wir jeden Tag Baklava essen.«
    Sie spielte damit auf den Brauch an, dass Freier bei ihren traditionellen Besuchen stets Süßigkeiten mitbringen, um ihr Anliegen auszudrücken. Und gleichzeitig machte sie mir ein Kompliment damit, weil sie der Meinung war, ich könnte viele Bewerber haben.
    »Ich mach dir lieber selbst Baklava«, sagte ich, und wir lachten wieder.
    Meine Abreise nahm Saliha tapfer und gefasst hin. Fünf Tage hatten wir in ihrem Haus verbracht, das war mehr, als sie sich wohl erhofft hatte und bei Weitem mehr, als ich mir zugetraut hätte. Doch ich fühlte mich wohl bei ihr. Nicht zu Hause, aber wohl.
    Sie fragte nicht, ob ich wiederkäme. Sie nahm mich einfach in ihre Arme. Dieses Mal wusste sie, wohin ich ging. Wir hatten uns wiedergefunden. Auch wenn wir uns nun wieder loslassen mussten, weil jede von uns ein eigenes Leben hat. Und unsere Leben könnten unterschiedlicher nicht sein.

Epilog
    I ch habe mich oft gefragt, was aus mir geworden wäre, hätte mich mein Vater damals bei Saliha gelassen und wäre mit Kornelia allein zurück nach Deutschland gefahren. Wie wir im Rheinland sagen: »Man weiß et nisch.« In diesem Fall wäre ich jetzt seit mindestens dreizehn Jahren verheiratet und hätte mindestens vier Kinder. Vielleicht wäre ich glücklich? Ich würde ja nichts anderes kennen. Aber vielleicht würde ich eines Tages bei einem Besuch in Antakya einen Friseurladen besuchen, in einer Zeitschrift blättern, und wenn ich auch nicht schreiben und lesen könnte, so wie Saliha, dann würde ich doch zumindest die Fotos anschauen. Was, wenn in mir die Sehnsucht nach der großen, weiten Welt erwachen würde? Würde ich vielleicht heimlich weglaufen, mich aufmachen nach Deutschland und freischaffende Künstlerin werden?
    »Man weiß et nisch.«
    Auf der Suche nach meiner Identität habe ich irgendwann gelernt, dass der Sinn des Lebens, allen Lebens, Entwicklung ist – und das ist spannend, aber manchmal tut es auch weh.
    Wenn ich mir anschaue, was aus jedem Einzelnen geworden ist, der in dieser Geschichte vorkommt, dann muss ich sagen, dass mittlerweile doch jeder sein Leben so führt, wie er es für sich ausgewählt hat: Mein Bruder ist Sozialarbeiter und arbeitet mit jungen Immigranten, die ein ähnliches Schicksal in Schwierigkeiten geführt hat wie ihn, und das macht er richtig gut. Meine Schwester Melissa ist alleinerziehende Mutter und macht ihren Weg – auch ihr wünsche ich das Beste. Mein Vater lebt seit einigen Jahren mit seiner neuen Familie
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