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Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin

Titel: Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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gesehen, wie Jodokus und Jorin den Wehrgang entlang in östliche Richtung gelaufen waren. Augenscheinlich wollten sie die Burg umrunden und an anderer Stelle nach unten steigen, in der Hoffnung, ihren Verfolgern zuvorzukommen.
    Hagen riß Kriemhild am Oberarm herum. »Wenn sie klug sind, laufen sie zum Tor. Sie könnten es schaffen, und wir ebenfalls. Komm schon!« Mit diesen Worten warf er sich den reglosen Etzel über die Schulter, als wöge er trotz seines Rüstzeugs nicht mehr als ein junges Rehkitz.
    Kriemhild gab schweren Herzens nach und folgte dem Krieger über die Gasse. Als sie im Laufen einen letzten Blick zurück zum Hof warf, sah sie, daß der Priester sie entdeckt hatte. Befehle und Stiefelschritte hallten zwischen den Mauern wider, als sich ein ganzer Trupp von Hunnen in Bewegung setzte und die Verfolgung aufnahm.
    »Komm! Schneller!« schrie Hagen ihr über die Schulter zu.
    Sie überholte ihn einen Augenblick später. Hagen atmete schwer unter der Last des Prinzen, seine Geschwindigkeit war dennoch erheblich; ob sie aber ausreichen würde, um eine Horde wildgewordener Hunnen abzuschütteln, schien unwahrscheinlich. Schon waren die ersten auf fünfzehn Schritte heran, und ihre Schreie und das Scharren ihrer Sohlen erfüllten den Einschnitt zwischen den Häusern mit ohrenbetäubendem Lärm.
    Nach der nächsten Ecke war das Tor vor ihnen zu sehen. Zwischen ihnen und dem Spitzbogenportal lag ein weiterer Hof. Gerade stolperten Jodokus und Jorin eine Treppe hinunter, während aus einer anderen Richtung Gebrüll ertönte. Sowohl auf dem Wehrgang als auch am Fuß der Mauer waren ihnen die Hunnenkrieger dicht auf den Fersen.
    Doch es war nicht der Anblick der bedrängten Freunde, der Kriemhild eiskaltes Grauen einflößte.
    Jenseits des Tores hatte sich die Welt in weißes Nichts aufgelöst. Der Nebel hatte den Hochweg verschlungen. Durch den offenen Torbogen quollen wabernde Schwaden.
    »Weiter!« rief Hagen unermüdlich. Etzels Körper regte sich noch immer nicht, und das mochte einer der Gründe sein, weshalb keine Bogenschützen auf sie anlegten; Hagen lief genau hinter Kriemhild, und der Prinz auf seiner Schulter war ein hervorragender Schutz vor Pfeilen.
    Sie trafen Jorin und Jodokus am Tor, während sich hinter ihnen die Verfolger zu einer tödlichen Meute vereinigten. Jorin war totenblaß, seine Augen weit aufgerissen. Jodokus zog ihn keuchend am Arm hinter sich her. Der Kleine rannte mit all seiner Kraft. Kriemhild ergriff Jorins andere Hand, und gemeinsam gelang es ihnen, den Jungen durch den Torbogen zu ziehen.
    Hinein in den Nebel.
    Es war, als hätte man sie blitzartig an einen anderen Ort katapultiert. Ein dichter Vorhang trennte sie plötzlich von ihren Verfolgern, ein wattiges Etwas, das den Lärm der Hunnen beinah gänzlich schluckte. Nur ganz dumpf und fern waren noch ihre Schreie, das Rasseln der Rüstungen und Klingen und das Getrappel ihrer Füße zu hören. Hagen stürzte als schwarzer Schemen mit dem Prinz auf seinen Schultern hinter Kriemhild und den anderen her, doch jenseits seiner Fersen endete die Welt. Da war nur geisterhaftes Weiß, das Berenikes Hexenhort allmählich verzehrte.
    Doch kaum waren sie weitergelaufen – blindlings tiefer in den Nebel, in der verzweifelten Hoffnung, nicht über die Kanten des Hochwegs in den Abgrund zu stürzen –, als ihr Wunschdenken den Gesetzen der Wirklichkeit nachgab: Die Hunnen folgten ihnen unbeirrt, und das, was die Flüchtenden von ihnen trennte, war nichts als Nebel, der weder vor Klingen noch Pfeilspitzen schützte. Kriemhild konnte die Männer nicht sehen, zu dicht war der naßkalte Dunst, doch sie hörte wohl, daß die Krieger immer noch dicht hinter ihnen waren, denn die Geräusche wurden jetzt wieder lauter, als würden die Verfolger sie in den nächsten Augenblicken einholen.
    Kriemhild spürte Jorins Hand kühl in ihrer eigenen, und sie konnte ihn als vagen Umriß neben sich erkennen. Von Jodokus aber war kaum mehr etwas zu sehen. Sie hörte seine Schritte, auch sein gehetztes Keuchen, aber er lief verschleiert hinter einer Wand aus Weiß, obwohl er sich kaum drei Schritte links von ihr befand und immer noch Jorins andere Hand hielt. Einmal blickte sie über die Schulter zurück und sah, daß Hagen allmählich langsamer wurde. Er war ganz nahe hinter ihr, und noch sah sie seine verschwommene Form im Dunst. Doch auch er wurde immer stärker vom Nebel überlagert. Der gerüstete Etzel auf seinen Schultern machte ihm mit jedem
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