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Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin

Titel: Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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vollkommen windstill.
    »Wo ist Jodokus?« Kriemhild blickte sich alarmiert um. »Hagen, hast du Jodokus gesehen?«
    Das eine Auge des Kriegers blickte sie müde an. »Ich dachte, er wäre bei dir und dem Jungen.«
    Kriemhild sah in einem Anflug von Panik Jorin an, doch der schüttelte nur traurig den Kopf. »Er hat mich losgelassen, als wir alle hinfielen.«
    Mit letzter Kraft taumelte sie auf die Füße und näherte sich erneut dem Nebel.
    »Nein!« rief Hagen. »Kriemhild, bleib hier!«
    »Ich muß ihn suchen«, widersprach sie verzweifelt.
    »Wie willst du ihn da drinnen finden?« Hagen deutete über den ohnmächtigen Etzel hinweg ins Tal. »Was immer die Hunnen geholt hat, es ist immer noch irgendwo dort unten.«
    »Aber Jodokus hat –«
    »Seht!« schrie plötzlich Jorin und zeigte mit ausgestrecktem Arm über den Nebel.
    Kriemhild und Hagen folgten seinem Blick zu den beiden Turmspitzen, die wie die Masten eines gesunkenen Seglers aus dem Dunst hervorstachen. Auf dem Dach des Nordturms regte sich etwas. Eine Luke wurde nach außen geklappt, eine Gestalt schob sich hinaus auf die schwarzen Ziegel.
    Das Dach war so steil, daß Jodokus Mühe hatte, nicht den Halt zu verlieren. Dennoch beugte er sich noch einmal über den Rand der Luke und half einer Frau in weiten Gewändern ins Freie. Berenikes Bewegungen waren langsam und müde. Dennoch gelang es ihr, mit Hilfe des Sängers aufs Dach zu klettern. Gemeinsam schoben sie sich der Spitze entgegen, bis ihre Hände die Fahnenstange umfaßten.
    Tränen verschleierten Kriemhilds Sicht, und sie mußte sich mit dem Ärmel über die Augen reiben, um den Freund ein letztes Mal zu sehen. Viel Zeit blieb ihr nicht, denn der Nebel stieg höher, hier am Hang und rund um die Türme. Schon krochen die Dunstränder an dunklem Schiefer empor, schon verschwanden die Füße und Beine der beiden einsamen Gestalten in wallenden Schwaden.
    »Jodokus!« schrie Kriemhild über das Tal hinweg, und vielleicht hörte er sie ja, denn er drehte den Kopf und blickte herüber, und ganz kurz schien es ihr, als hätte sie trotz der Entfernung ein Lächeln auf seinen Zügen gesehen. Ein schwaches, trauriges Lächeln.
    Dann schloß sich der Nebel über ihm und der Hexe, und einen Augenblick später waren auch die Fahnen und der Wetterhahn unter der Oberfläche verschwunden.
    Hagen stand plötzlich neben Kriemhild und nahm sie in den Arm wie ein Vater die Tochter, sehr vorsichtig, sehr zaghaft. Doch statt Liebe war da Treue, und statt Trost empfand sie nichts als Trauer.

Epilog  
    ie vier Haupttürme des Wormser Münsters ragten fast zwanzig Mannslängen hinauf in den Himmel, und Kriemhild schien es manchmal, als müßten ihre Spitzen gar die Wolken durchbrechen. Sie stand an einem Fenster im obersten Stockwerk, gleich unterm Dach eines der beiden Osttürme, und blickte hinab in den Hof der Königsburg. Alles dort unten schien ihr sehr fern, sehr unbedeutend.
    Der mächtige Dom erhob sich im Zentrum der Burg, und seine höchsten Fenster überschauten nicht nur die riesige Festungsanlage mit ihren Wehrmauern, Fachwerkbauten und rotbraunen Giebeln, sondern auch die ganze Stadt, den Rhein und die weiten Wälder im Osten.
    Kriemhild kniff die Augen zusammen und schaute über die Wipfel der Bäume hinweg, dorthin, wo das Land in diesigem Blau mit dem Sommerhimmel verschmolz. Irgendwo dort hinten, weit, weit entfernt, lag Salomes Zopf. Sie fragte sich, wie es jetzt, nach Jodokus’ Opfergang, wohl dort aussehen mochte, in jenem fernen Tal unter den Türmen des Hexenhortes.
    Schon früher war sie oft hier heraufgestiegen um alleinzusein, doch seit ihrer Rückkehr vor sieben Tagen tat sie es regelmäßig. Morgens, zur Mittagszeit und noch einmal vor Anbruch der Dämmerung. Sie hielt Ausschau nach zwei weißen Adlern.
    Unten am Haupttor gerieten einige Stallburschen in Bewegung. Ein Ruf drang von außen in den Hof, ein zackiges Kommando der Burgwache. Jemand kam, ein Reiter.
    Nachdenklich beobachtete Kriemhild von ihrem Fenster unter den Wolken, wie Hagen von Tronje auf einem braunen Wallach durch den Torbogen ritt. Instinktiv glitt ihr Blick hinauf zu den Zinnen. Auf einer saßen zwei schwarze Raben und blickten reglos hinab in den Hof.
    Hagens langer Umhang flatterte, als er sich vom Pferd schwang und das Tier in die Obhut der Stallknechte gab. Ein halbes Dutzend Knappen eilte herbei, vorneweg ein kleiner Junge, der neu war im Dienste des Königs. Kriemhild erwartete, daß Jorin zu ihr emporblicken
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