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Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin

Titel: Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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würde, doch er tat es nicht. Statt dessen war er der erste an Hagens Seite und nahm würdevoll den Schwertgurt des Kriegers entgegen. Hagen blickte kurz zu ihm hinunter, doch Kriemhild konnte nicht erkennen, ob er Jorin ein Lächeln schenkte. Es war unwahrscheinlich. Hagen lächelte nie.
    Eine halbe Tagesreise, bevor die Heimkehrer auf ihrem Weg zurück nach Worms den Rhein erreicht hatten, hatte Hagen sich von ihnen getrennt. Er gab keine Erklärung, sagte nur Lebewohl und sprengte auf einem der drei Pferde davon, die sie nach dem Verlust von Lavendel und Hagens Streitroß einigen Flüchtlingen abgekauft hatten. Der Besitzer war froh gewesen, bei der Rückkehr in sein Heimatdorf einen Beutel klingenden Goldes mitzubringen; ihm und seiner Familie würde es die ersten Wochen nach dem Ende der Seuche erleichtern.
    Es kam oft vor, daß Hagen für mehrere Tage spurlos verschwand, mindestens einmal in jedem Mond. Es gab viele Gerüchte darüber, wohin er ging, und die meisten Menschen bei Hofe waren überzeugt, er sei einem Frauenzimmer zugetan, in dessen Arme er sich heimlich zurückzog. Daß die Vorstellung, der düstere, gefühlskalte Hagen unterhalte eine verborgene Liebschaft, so abwegig schien, tat den Gerüchten keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Nicht wenige bewunderten ihn hinter vorgehaltener Hand für sein Talent der Verstellung.
    Auch Kriemhild wußte nicht, wohin der dunkle Recke ging, wußte auch nicht, was es war, das ihn so oft in die Ferne trieb. An ein verstecktes Liebesnest aber konnte sie am allerwenigsten glauben. Mehr als einmal hatte sie den Ausdruck von Verzweiflung und Trauer in seinen Augen gesehen, wenn er heimgekehrt war, ein verzehrendes Leid, das er durch sein finsteres Auftreten vor allen anderen zu verbergen suchte.
    Was immer die Ursache seines Verschwindens sein mochte, vielleicht war es gut, daß niemand außer ihm selbst die Wahrheit darüber wußte.
    Jetzt beobachtete Kriemhild, wie er mit wogendem Federkragen im Portal des Hauptgebäudes verschwand. Erst dann blickte sie wieder zum Himmel empor. Keine Spur von den weißen Adlern, nur die beiden Raben hockten starr wie Wasserspeier über dem Tor.
    Kriemhild dachte an Etzel, und an ihren Streit mit Hagen über das Schicksal des Prinzen. Hagen hatte ihn mit nach Worms nehmen wollen, nur deshalb hatte er ihn aus Berenikes Burg gerettet, doch Kriemhild war dagegen gewesen. Als alle Versuche, ihn zu überzeugen, fehlgeschlagen waren, hatte sie sich auf ihre Stellung als Schwester des Königs berufen: Laut und vielleicht eine Spur zu barsch hatte sie Hagen den Befehl gegeben, Etzel laufen zu lassen. Schweigend hatte der Krieger gehorcht.
    So war Etzel nach Osten gezogen, gerüstet und bewaffnet wie ein Königssohn und doch auf Schusters Rappen wie ein einfacher Wanderer. Ihr Abschied war förmlich gewesen und ohne große Wärme, ganz so, wie es den Kindern verfeindeter Herrschersippen anstand.
    Während die Raben sich von den Zinnen erhoben und langsam hinüber zum Dach des Thronsaals schwebten, setzte sich Kriemhild rittlings auf den Fenstersims und ließ ein Bein an der Außenseite baumeln. Der Gedanke an Etzel wurde von ihren Gefühlen für Jodokus überlagert. Es tat immer noch weh, an ihn zu denken, viel mehr, als sie sich eingestehen wollte.
    Unten im Hof zeigte jemand mit ausgestrecktem Arm zu ihr herauf, und ein sorgenvolles Raunen ging durch das Gewimmel der Bediensteten. Nahmen sie wirklich an, ihre Prinzessin könnte in den Tod stürzen? Kriemhild lachte leise und verscheuchte sie mit einer herrischen Geste. Dabei fiel ihr Blick auf einen Trupp von Jägern, der mit reicher Beute zum Tor hereinritt. Die Gehilfen trugen erlegtes Rotwild und ganze Bündel toter Hasen und Kaninchen. Ein Falkner ritt an der Spitze, sein Vogel kauerte reglos auf seiner Schulter.
    Behende sprang Kriemhild zurück in die Turmkammer und rannte mit wehendem Kleid die Wendeltreppe hinab. Sie würde den Falkner bitten, sie seine Kunst zu lehren.
    Und plötzlich lief sie schneller, nahm immer zwei, drei Stufen auf einmal.
    Ein guter Tag, dachte sie beschwingt und vergaß noch im selben Augenblick, wofür.
     
     
     
    - ENDE -

Die Nibelungen
     
    Die große Saga »Die Nibelungen« ist keine Nacherzählung des weltberühmten Nibelungenliedes. Jeder Roman erzählt eine neue, aufregende Geschichte um einen Helden des Epos. Gleichwohl lassen sich die Romane in die Chronologie des Liedes einordnen.
     

     
    Chronologie
    Die Flammenfrau
    Der Rabengott
    Hagen
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