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nevermore

Titel: nevermore
Autoren: Heike
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und drückte sie eng an ihre Brust.
    Sie presste den Kragen an ihre Lippen und sog Varens Geruch ein. Sein Duft und das Gefühl der groben Fasern erinnerten Isobel an den Augenblick, als sie einander so nah gewesen waren. Sie strich mit den Fingerspitzen einen Ärmel entlang und dachte daran, wie es sich angefühlt hatte, als sich sein Körper an ihren gedrückt hatte, und wie seine Lippen geschmeckt hatten.
    Sie steckte beide Arme durch die Ärmel. Das Gewicht des Stoffs legte sich auf ihre Schultern. Sie schlang die Arme um sich und stellte sich vor, dass es Varen war, der sie umschlungen hielt, sicher und warm, und nicht diese leere Hülle, dieses Überbleibsel.
    Etwas raschelte in der rechten Jackentasche.
    Isobel erstarrte.
    Mit einer Hand fuhr sie in die Jackentasche ... und fühlte Papier. Sie zog den zusammengefalteten Zettel heraus. Eine Nachricht.
    Die Asche, von der das Papier überzogen war, löste sich in Luft auf, als Isobel mit dem Daumen darüberstrich. Mit offenem Mund starrte sie den Zettel an und erwartete halb, dass er ebenfalls unter ihren Fingern zerfiel.
    Doch das tat er nicht.
    Langsam öffnete sie ihn. Sie ging so vorsichtig damit um, als wäre es ein verwundeter Sperling. Die ungleichmäßigen, zerknitterten Knicke sagten ihr, dass er hastig in die Tasche gestopft worden war. Der Zettel war von seinem Urheber in aller Eile weggepackt worden, so als hätte er ihn außer Sichtweite bringen wollen, bevor er von jemand anderem abgefangen werden konnte.
    Eine violette Handschrift, seine Handschrift, überzog die Seite in eiligen und doch wunderschönen Schwüngen und Schleifen. Isobel fuhr mit den Augen die Zeilen entlang und sog jeden Satz Wort für Wort in sich auf.
     
    In den Schatten des Traumlandes wartet er. Er betrachtet 
    das Fenster zu dieser Welt, das jetzt weit offen steht.
    Er hat so sehnsüchtig darauf gewartet, es aufzustoßen.
    Jetzt steht auch sie ihm offen, diese Welt, trostlos, leer
    und verwüstet - genau wie er und erfüllt ihm seinen Wunsch. 
    Er gehört jetzt hierher.
    Doch diese Welt kann sich nicht mit der Erinnerung an 
    ihre Augen messen. Azurblau und so warm wie ein 
    Sommerhimmel.
    Wenn er doch nur in ihrer beider Welt fallen könnte.
    Das wünscht er sich so sehr.
    Jetzt schreibt er das Ende der Geschichte, die nun, nach 
    der düsteren Mitternacht - nach dieser viel zu späten 
    Stunde -, ihren Willen bekommt. Er weiß jetzt, dass es 
    schon immer so enden sollte. Wie die »Zirkelbahn«, die 
    »in sich selbst stets zurück läuft.«
    Meine wunderschöne Isobel. Meine große Liebe. 
    Du bittest mich zu warten. Also warte ich.
    Weil ich weiß, dass das alles nur ein Traum ist.
    Und wenn wir schließlich am Ende im Schlaf erwachen, 
    werde ich dich wiedersehen.
     
    Isobel starrte auf den Zettel in ihrer zitternden Hand und war zu nichts anderem fähig, als mit glühenden Augen immer und immer wieder die tiefvioletten Tintenstriche nachzufahren, aus denen diese letzte Zeile bestand.
    Entgegen der wörtlichen Bedeutung dieser Worte wusste sie, dass Varen sich damit von ihr hatte verabschieden wollen.
    Niemals, dachte sie und strich mit einer Fingerspitze über den Schwung der sorgfältig geformten Buchstaben. Tausendmal nein! Sie waren jetzt für immer und ewig unwiderruflich miteinander verbunden. Seit dem Tag, an dem er den Stift auf ihre Haut gesetzt hatte. Und auch wenn sich der Abgrund, der jetzt zwischen ihnen klaffte, über die Grenzen von Zeit und Raum, von Traum und Realität hinaus erstreckte, hielt sie dennoch an dem Glauben fest, dass es einen Weg gab, ihn zu überwinden. Dass es trotz allem irgendeine Möglichkeit gab, ihr Versprechen zu halten. Es musste einfach eine geben.
    Langsam ließ Isobel die Nachricht sinken und hob die freie Hand, um die Tränen wegzuwischen, die ihr übers Gesicht liefen.
    Ein eiskalter Wind ließ sie aufschrecken. Der Luftzug stach ihr in die feuchten Wangen und zerzauste ihr mit kalten Fingern das Haar. Sie drehte sich um und warf einen Blick über die Schulter.
    Das Fenster. Es stand offen. Sie runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht daran erinnern, es aufgemacht zu haben.
    Die Spitzenvorhänge flatterten und raschelten im Wind. Der hauchdünne weiße Stoff schlug gegen die Wandtäfelung und machte dabei ein Geräusch wie eine weit entfernte Meeresbrandung.
    Der Wind nahm an Stärke zu. Er war der Vorbote des harten und bitteren bevorstehenden Winters. Der Luftzug zerrte an dem Papier in Isobels Hand, so als
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