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Neva

Neva

Titel: Neva
Autoren: Sara Grant
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jedenfalls hat sie es den anderen schmackhaft zu machen versucht: Je größer das Risiko, umso größer der Kick. Ich kenne die meisten Leute schon eine Ewigkeit, aber es sind hauptsächlich Sannas Freunde. Sie trauen mir nicht und haben es auch früher nie getan. Ich bin die Tochter des Ministers für Altgeschichte – schuldig durch Blutsbande.
    Sanna hat alle dazu überredet, ihren Teil beizutragen. Nicoline hat schwarze Plastiktüten mitgebracht, Ethan Handtücher, mit denen man die Türritzen zustopfen kann. Sannas Bruder hat uns drei Rollen Klebeband besorgt. Woher er solche Sachen bekommt, fragen wir ihn nie.
    Wir haben eine Stunde gebraucht, um unser Wohnzimmer vollständig gegen das Licht abzudichten. Zuerst haben wir die Fenster mit den schwarzen Tüten verklebt und die Lampen ausgeschaltet. Nach ein paar Sekunden hatten sich unsere Augen allerdings angepasst, und wir konnten einander als graue Schatten sehen. Es reichte nicht. Also stürzten wir uns auf jede einzelne Lichtquelle und schlugen die Fenster mit einer weiteren Schicht aus schwarzem Plastik aus.
    Noch immer konnten wir Umrisse erkennen. Die kleine rote Lampe des Notstromaggregats schien den ganzen Raum zu erhellen. Wir zogen sämtliche Stecker heraus. Als ich erneut das Licht löschte, gab es nur noch reine, schwarze Stille.
    Jetzt höre ich Tuscheln und Wispern und das Rascheln und Reiben von Körpern, die zusammenfinden. Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht. Wir haben gehofft, uns im Dunkeln selbst zu finden, aber stattdessen stellen wir unser Keuschheitsgelübde auf die Probe.
    Ethan und ich haben unsere Kissen gefunden. Wir liegen Seite an Seite, unsere Ellenbogen und Füße berühren sich, und trotzdem scheint er meilenweit entfernt zu sein. Die Dunkelheit schiebt ihre eisigen Finger unter meine Haut, aber ich weigere mich nachzugeben.
    Angestrengt bemühe ich mich, alle Gedanken und Bilder aus meinem Kopf zu verbannen. Ich will nicht an die Farben der Kissenbezüge oder an die Lochspitze der Borte denken. Eine einzige winzige Vorstellung reicht aus, um eine ganze Lawine an Eindrücken auszulösen. Zuerst sehe ich das Wohnzimmer mit der abgewetzten Ledercouch, den Kamin mit den künstlichen Flammen, die Regale, vollgestopft mit staubigen Büchern über unsere genehmigte Geschichte. Aber nun dehnt sich mein Sichtfeld aus, als würde ich mit einem Ballon in den Himmel schweben, und ich sehe unser viereckiges Backsteinhäuschen, das sich kaum von den umliegenden Häusern unterscheidet. Während ich immer weiter aufsteige, erkenne ich die grünen und betonierten Quadrate der Stadt, die tausendfach multipliziert den grauen Dunst erzeugen, aus dem Heimatland besteht. Ganz allmählich blende ich das Bild in meinem Kopf aus. Alles wird schwarz.
    Ich schaudere.
    »Schon gut«, meint Ethan und schlingt die Arme um mich, wodurch mir irgendwie noch kälter wird.
    Meine Augen sehnen sich nach Formen und Farben, aber die Schwärze um mich herum kommt mir wie ein fester Körper vor. Ich drehe mich um und stütze mich auf einen Ellenbogen, um mich ihm zuzuwenden. Ich will seinen Namen nicht denken, denn sein Name beschwört die Bilder herauf, denen ich entgehen möchte. Seine Haut, die dieselbe Farbe hat wie der milchige Tee, den wir trinken. Seine Ohren sind genauso geformt wie die meines Vaters. Sein kurzes braunes Haar ist ebenso wirr und wellig wie das von allen anderen. Ich sehe mich selbst hinter jeder Ecke, immer und überall – als würde ich in einem Spiegelkabinett leben.
    Meine Großmutter hat mir einmal von einer längst vergangenen Zeit erzählt, in der die Menschen unterschiedlich gewesen sind. Geschichten von einer Existenz außerhalb der Protektosphäre, die von Generation zu Generation heimlich weitererzählt wurden. Von einer Zeit, in der man gehen konnte und zurückkehren durfte. Ich sehe meine Großmutter noch immer jeden Tag vor meinem geistigen Auge, obwohl sie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr da ist.
    »Vor langer, langer Zeit, kleine Schneeflocke«, begann sie, »waren die Menschen farbenprächtig. Jeder war einzigartig.« Das Wort brachte mich zum Kichern. »Aber es war zu schwierig, einzigartig und gleichzeitig gleich zu sein.« Sie erzählte mir fantastische Märchen von Kriegen, die allein wegen Unterschieden geführt wurden – wegen verschiedener Religionen, verschiedener Kulturen, verschiedener Hautfarben. »Wir haben uns selbst isoliert und eingesperrt. Mit jeder Generation werden wir einander nun
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