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Neva

Neva

Titel: Neva
Autoren: Sara Grant
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ähnlicher.« Damit brach Großmama eines der vielen ungeschriebenen Gesetze unserer Regierung. Offiziell hat es vor dem
Terror
und der Versiegelung der Protektosphäre nichts gegeben, und offiziell existiert außerhalb davon überhaupt nichts. Meine Großmutter nahm mir das Versprechen ab, ihre Geschichten niemandem weiterzusagen.
    »Aber was soll denn daran schlimm sein? Du hast es mir doch auch erzählt.« Ich kuschelte mich an sie, und sie strich mir über das Haar.
    »Du bist anders.« Ihre Worte kitzelten mich. Sie sprach immer so dicht an meinem Ohr, als sei alles eine geheimnisvolle Prophezeiung.
    Ich bin die Einzige, die sich noch an sie erinnert. Eines Abends hat sie mich ins Bett gebracht, und am nächsten Tag war sie einfach verschwunden – von jetzt auf gleich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nicht einmal ihr Sohn, mein Vater, erwähnt sie je auch nur in einem Nebensatz.
    »Neva«, flüstert Ethan und holt mich damit in die Gegenwart zurück. Ich lege meinen Kopf an seine Brust und lausche dem gleichmäßigen Wummern seines Herzens. Dieses Geräusch kenne ich gut. Sanna und ich haben ihn angefleht, sich ein Kenn-Zeichen zu machen, aber er sagt, er kann nicht. Mein Zeichen verheilt gerade langsam; noch ist es rot und wund von den Hunderten von Nadelstichen. Sanna hat mir geholfen, es zwischen Bauch und Hüfte einzutätowieren: Es ist eine kleine Schneeflocke, die Richtung Schamhaar fällt.
    Sanft drückt er mich auf den Rücken und legt sich auf mich. Dann küssen wir uns, als würde das zu einer speziellen Choreografie gehören. Plötzlich werde ich mir bewusst, dass meine Arme sich anspannen und ich ihn automatisch enger und fester an mich ziehe. Ich dränge meinen Körper, so zu reagieren, wie er es früher getan hat. Wir befinden uns in einem zeitlosen Raum. Ethans Hände streichen hastig über meine Haut. Sein Atem geht rasch, stoßweise. Er fummelt herum, und ich tue so, als würde ich ihn noch lieben. In dieser Leere fühle ich mich einsamer denn je.
    Jemand räuspert sich. Es ist Sanna, ich weiß es. Ein neuer Schub Panik durchfährt mich. Sie zieht es wirklich durch. Wir reden seit Wochen davon. Die heimliche Planung hat uns die notwendige Energie verliehen, aber es ist ja nicht so, als würden wir einfach die Schule schwänzen oder unsere beigefarbenen Roben für die Abschlussfeier pink färben. Die Regierung könnte uns wegen unpatriotischer Taten auslöschen – wie ihren Vater oder meine Großmutter. Ich muss Sanna aufhalten. Als ich mich aufsetze, stößt mein Kopf mit Ethans zusammen.
    »Autsch«, sagte er, dann senkt er die Stimme. »Was ist denn?«
    »Entschuldige.« Ich muss zu Sanna. Wir haben uns geirrt, als wir glaubten, wir würden uns im Dunkeln finden. Vielleicht irren wir uns auch, wenn wir glauben, dass wir etwas verändern können. »Ich komme gleich wieder.« Ich stehe auf und taste mich schlurfend voran. Ich weiß nicht, wo ich bin. In der Dunkelheit ist nichts, woran ich mich orientieren kann. Oben könnte unten, links könnte rechts sein. Ich spüre die Finsternis wie eine schwere Last auf meiner Brust. Sie packt mich. Ich ringe nach Atem.
    »Dürfte ich um eure Aufmerksamkeit bitten?« Sanna. Ich komme zu spät. Mein Körper pocht im Rhythmus meines Herzschlags. »Tut mir leid, wenn ich euch bei etwas Wichtigem unterbreche.« Ihre Stimme klingt sanft und entschuldigend. »Aber ich habe etwas zu sagen.« Wir haben uns geeinigt, dass sie das Reden übernimmt. Mir fällt es schwer genug, mich im Dunkeln aufhalten zu müssen, und ich trage ein zusätzliches Risiko, weil ich die Party ausgerichtet habe. Mein Vater würde ausrasten, wenn er es erfahren würde. Er missbilligt alles, womit auch nur im Entferntesten angedeutet wird, dass Heimatland nicht perfekt sein könnte. Mom hat versprochen, Dad heute lange von zu Hause fernzuhalten. Sie glaubt, wir feiern unseren Abschluss. Was wir genau vorhaben, habe ich ihr nicht erzählt. Das habe ich niemandem erzählt.
    »Wir sind sechzehn.« Jubel bricht aus, und Sanna wartet ab. Die Last dessen, was wir tun, droht mich zu überwältigen. »Das bedeutet, dass wir ihrer Meinung nach erwachsen sind.« Ich konzentriere mich auf Sanna und versuche, mich wieder zu beruhigen. Jetzt bemerke ich ein leichtes Beben in ihrer Stimme. »Es wird Zeit, dass wir uns auflehnen.« Eigentlich hatten wir an dieser Stelle mit weiterem Jubel gerechnet, aber in dem finsteren Raum bleibt es totenstill. »Also gut«, fährt sie fort. Es klingt fast, als
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