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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer
Autoren: William Gibson
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Scheinwerferkegel eines 4
    Cursor = blinkender Zeiger auf dem Bildschirm, der die augenblickliche Stelle angibt, wo Eingaben gemacht werden können. - Der Übers.
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    näherkommenden Fahrzeugs.
    Ihre gemeinsame Nacht dauerte bis zum Morgen; anschließend Tickets
    fürs Hovercraft und sein erster Ausflug über die Bucht. Der Regen ließ auch in Harajuku nicht nach, perlte von ihrer Plastikjacke. Die Kinder von Tokio marschierten in weißen Mokassins und Regenmänteln an den berühmten Boutiquen vorbei. Als sie mit ihm schließlich im mitternächtlichen Geklapper einer Pachinko-Halle5 stand, hielt sie seine Hand wie ein Kind.
    Es dauerte einen Monat, bis die Konfiguration von Drogen und Verkrampfung, die er durchlief, diese ständig perplexen Augen in einen Quell reflexiver Bedürfnisse verwandelte. Er hatte beobachtet, wie sich ihre Per-sönlichkeit spaltete, kalbte wie ein Eisberg, in Schollen abdriftete, und schließlich das nackte Bedürfnis gesehen, das hungrige Gerippe der Sucht.
    Er hatte beobachtet, wie sie den nächsten Druck setzte - mit einer Konzentration, die ihn an die Gottesanbeterinnen erinnerte, die in Shiga an Ständen neben Becken mit blauen Zuchtkarpfen und Grillen in Bambuskä-
    figen feilgeboten wurden.
    Er starrte auf den schwarzen Ring von Kaffeesatz in seiner leeren Tasse.
    Sie wackelte durch das Speed, das er reingezogen hatte. Die braune
    Kunstharzbeschichtung des Tisches war mit einer dumpfen Patina winziger Kratzer überzogen. Als das Dex in seine Wirbelsäule stieg, sah er die unzähligen, zufälligen Stöße, die erforderlich gewesen waren, um die Oberfläche derart aufzurauhen. Das Jarre war eingerichtet in einem veralteten, namenlosen Stil des vorigen Jahrhunderts, einer ungemütlichen Mischung aus japanischer Tradition und bleichem Mailänder Plastik, aber alles schien mit einem feinen Film bedeckt zu sein, als hätten die schlechten Nerven von Millionen Gästen die Spiegel und einst glänzenden Plastikflächen an—gegriffen und eine trübe Schicht darauf hinterlassen, die sich nicht mehr abwischen ließ.
    »He Case, alter Freund...«
    Er blickte auf, sah in graue Augen mit Lidstrich. Sie trug einen ausgewa—schenen französischen Orbit-Overall und nagelneue weiße Turnschuhe.
    »Such dich schon 'ne Weile, Mann.« Sie setzte sich ihm gegenüber und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Die Ärmel des blauen Overalls waren an den Schultern abgetrennt. Ganz automatisch suchte er ihren Arm nach 5
    Pachinko = jap. Flipperspiel. - Der Übers.
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    Derms oder Einstichen ab. »Zigarette?«
    Sie kramte ein zerknülltes Päckchen Yeheyuan Filter aus einer Tasche in der Knöchelgegend und bot sie ihm an. Er nahm eine und ließ sie sich mit einem roten Plastikfeuerzeug anzünden. »Schläfst du genug, Case? Siehst müde aus.« Ihr Akzent verriet, daß sie aus dem südlichen Sprawl, Gegend von Atlanta, stammte. Sie war blaß unter den Augen und sah krank aus, aber ihre Haut war noch glatt und straff. Sie war zwanzig. Die ersten Kum-merfältchen gruben sich in ihre Mundwinkel. Ihr schwarzes Haar war mit einem bedruckten Seidenband zurückgebunden. Das Muster erinnerte an einen Mikroschaltkreis oder Stadtplan.
    »Nicht wenn ich dran denke, meine Pillen zu schlucken«, sagte er. Es überrollte ihn eine handfeste Woge der Sehnsucht, der Lust und Einsam—keit auf der Wellenlänge des Amphetamins. Er erinnerte sich an den Duft ihrer Haut im überheizten, dunklen Sarg beim Hafen, an ihre über seinem Hintern verschränkten Hände.
    All das Fleisch, dachte er, und all seine Gelüste.
    »Wage«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Er will dir ein Loch in den Schädel pusten.« Sie zündete sich selber eine Zigarette an.
    »Wer sagt das? Ratz? Hast du Ratz gesprochen?«
    »Nein. Mona. Ihr neuer Knabe ist einer von Wages Mackern.«
    »Ich schulde ihm nicht genug. Er schuldet mir, aber er hat sowieso keine Knete.« Er zuckte die Achseln.
    »Zu viele Leute schulden ihm was, Case. Vielleicht will er an dir ein Exempel statuieren. Du solltest echt besser aufpassen.«
    »Klar. Wie steht's mit dir, Linda? Hast du 'n Platz zum Pennen?«
    »Pennen.« Sie schüttelte den Kopf. »Klar, Case.« Sie schauderte, vornüber auf den Tisch gebeugt. Ihr Gesicht war mit Schweiß bedeckt.
    »Hier«, sagte er, wühlte in der Tasche seines Anoraks und zog einen zerknüllten Fünfziger hervor. Automatisch strich er ihn unterm Tisch glatt, faltete ihn zweimal und gab ihn ihr.
    »Du brauchst es selber, Süßer. Gib's lieber
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