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Neuland

Neuland

Titel: Neuland
Autoren: Eskhol Nevo
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was die Sache so unreal macht: dass das alles im Grunde die Wiederholungssendung eines Krieges ist, der bereits stattgefunden hat. Meinst Du, ab jetzt wiederholen sich alle Kriege, nur in umgekehrter Reihenfolge? Dass wir einen zweiten Jom-Kippur-Krieg haben werden? Einen zweiten Sechstagekrieg? Kapierst Du, warum die Idee von Neuland eine solche Kraft besitzt? Du hast Recht, seine Mittel sind radikal, aber vielleicht wirken, wenn alles so festgefahren ist, nur noch radikale Mittel?
    To: Inbar
    From: Dori
    Subject: Tsipke Fayer
    Passt sehr gut, dieser Spitzname.
    Gestern – Du wolltest doch, dass ich Dir davon erzähle – hatte ich meine erste Musikstunde. Vorneweg: Nicht nur bei Dir und bei mir herrscht Chaos. Das Haus meines Lehrers wurde durch den Krieg zu einer Hundehütte! Da sind ein Golden Retriever aus Kiriat Schmona, ein Dackel aus Akko und eine Promenadenmischung aus Gusch Chalav. Sie wurden von ihren Besitzern ausgesetzt, als die ins Landesinnere flohen, und er ist da hingefahren, hat sie eingesammelt und bei sich aufgenommen. Als ich reinkam, sind alle diese verlassenen Hunde an mir hochgesprungen, und ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, wie wir auf diese Art Musikunterricht machen sollten. Aber dann nahm er mich mit in einen schalldichten Raum, dessen Decke ganz mit Eierkartons beklebt war, schloss die Tür hinter uns und sagte zu mir: Spiel. Was soll ich spielen?, fragte ich. Was du willst, sagte er. Da hab ich den Staub von Großvater Fimas Trompete gespielt, ein Stück, das er mir mal beigebracht hat. Keine Ahnung, wie es heißt. So was Jüdisches, sehr melancholisch. Beim Spielen kamen die Erinnerungen an Großvater, wie er stundenlang geduldig mit mir übte und wie er mich zu seinen Auftritten mitnahm, immer in der Erwartung, dass viele Leute kommen würden, und immer kamen nur wenige. Aber das macht nichts, hat er dann gesagt, ich spiele, weil die Musik die einzige Sache ist, die es mir ermöglicht, das Leben zu ertragen.
    Daran musste ich beim Spielen denken. Und als ich fertig war, sagte der Lehrer: Okay, du machst sieben Fehler in einer Minute, aber du hast die Seele eines Musikers. Also ran an die Arbeit. Und während wir arbeiteten, dachte ich: Wie lang war ich nicht mehr in der Position eines Lernenden, eines Empfangenden, im Grunde seit der Uni, und wie schön wäre es, wenn ich glauben könnte, dass mein Großvater und meine Mutter, die immer gesagt hat, es sei so schade, dass ich nicht spiele, mich jetzt von oben sähen.
    Dori
    P.S. Meine Schwester redet jetzt davon, dass auch sie nach Neuland fahren will, sobald der Krieg vorbei ist. Ich weiß nicht, was ich ihr dazu sagen soll.
    P.S. 2 Wie heißt Deine Großmutter?
    To: Inbar
    From: Dori
    Subject: Später (ich hoffe, nicht zu spät)
    Ich weiß, eigentlich bist Du dran, aber ich kann nicht einschlafen. Ich hab mich zwei Stunden im Bett gewälzt und bin schließlich zurück an den Computer gegangen. Plötzlich, mit einem »delay« von zwei Wochen (ich bin langsam, ich weiß), habe ich eine ganze Flut von Bildern von der Reise im Kopf. Stimmen, Klänge, Leute. Zum Beispiel – ich glaube, das hab ich Dir gar nicht erzählt – wie Alfredo und ich auf dem Weg zum Markt in Otavalo in einen kleinenLaden gegangen sind, weil es regnete. Das war, bevor wir Dich getroffen haben. Als der Ladenbesitzer hörte, dass ich aus »Jerusalén« komme, bestand er darauf, mir einen Zettel zu geben, den ich in die Klagemauer stecken solle. Ich hatte das total vergessen, aber als ich gestern die Hose anzog, die ich an dem Tag getragen habe, fand ich ihn wieder. Stell Dir vor, die Hosen waren seitdem mindestens einmal in der Wäsche, aber irgendwie hat sich das Papier nicht aufgelöst und auch die Schrift ist nicht verwischt. Deshalb hab ich das Gefühl, ich muss ihn in die Klagemauer stecken, sonst stößt mir noch etwas zu. Und … ich dachte, ich schlage Dir vor, mich zu begleiten.
    Natürlich nicht jetzt. Wenn der Krieg vorbei ist. Wenn die Gäste aus unsren Häusern und die Kriegsflugzeuge wieder vom Himmel verschwunden sind.
    Was meinst Du? Ich weiß, das ist das genaue Gegenteil dessen, was ich Dir vorher geschrieben habe. Und das Letzte, was ich will, ist, Dich verrückt machen, aber ich rede den ganzen Tag mit Dir, Inbar, und diese Mails – ihre Verbindung zur Realität wird immer dünner, sie schaffen eine eigene, utopische Welt. Wenn wir aufhören würden, uns zu schreiben und uns wirklich treffen – ein Mal, mehr nicht –, könnte uns das
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