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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition)
Autoren: Ulrich Wickert
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August 2006 die Moderation der Tagesthemen an Tom Buhrow abgeben würde. Schon ein Jahr zuvor hatte mich Jobst Plog, Intendant des NDR, gefragt, ob ich mir vorstellen könne, in der ARD eine Buchsendung zu moderieren. Vielleicht sechs Mal im Jahr. Die Idee fand ich reizvoll. Eine Probesendung von der Leipziger Buchmesse aus war in den Dritten Programmen von NDR und WDR gelaufen und für gut befunden worden. In dieser Sendung zeigten wir auch einen Beitrag über die Arbeit von Günter Grass an seiner Biographie. In diesem Stück war klar erkennbar, dass er über seine Jugend und seine damalige Nazi- Bewunderung schreiben würde. Da sagte ich mir, das könnte eine spannende Sache für die Sendung »Wickerts Bücher« sein.
    Wenig später waren meine Frau Julia und ich im April zum Abendessen in Behlendorf, und beim Abschied hatte mir Günter Grass das Manuskript seines biographischen Buchs »Beim Häuten der Zwiebel« mit der Bitte um Anmerkungen mitgegeben. Ich kam nicht sofort dazu, es zu lesen. Aber Günter rief mich mehrmals an und fragte, wie denn das Buch auf mich wirke. Also nahm ich es zur Hand und las eine spannende, eine ehrliche und wichtige Biographie. Dass Grass als Pimpf begeisterter Nazi war, hatte er überall erzählt und geschrieben. Dass er aber zu Kriegsende in eine Einheit der Waffen-SS eingezogen wurde, war mir neu. Als wir telefonierten, sagte ich ihm, ich fände diese Tatsache hochinteressant. Denn sie könnte eine Diskussion darüber auslösen, wie sich junge Menschen in totalitären Systemen verführen lassen, nicht nur bei den Nazis, sondern auch in der DDR und sonstwo auf der Welt. Und dann müsste man sich vielleicht die Frage stellen, ob wir Westdeutschen mit allen ostdeutschen Biographien gerecht umgegangen seien.
    »Beim Häuten der Zwiebel« sollte Anfang September 2006 erscheinen. So verabredeten wir, die erste Ausgabe meiner Büchersendung »Wickerts Bücher« einem Gespräch mit Günter Grass zu seiner Biographie zu widmen. Auch das Sendedatum wurde festgelegt: 17. August. Die Sendung sollte auf der dänischen Insel Møn vor oder im Ferienhaus, in dem das Ehepaar Grass seit mehr als dreißig Jahren seine Sommer verbringt, aufgenommen werden.
    Die Diskussion über das Buch verlief jedoch völlig anders, als ich es vermutet hatte. Grass gab der FAZ schon vor meiner Sendung ein langes Interview. Darin wurde auch das Thema Waffen- SS ausgiebig diskutiert, und sofort fiel ein großer Teil der Öffentlichkeit über Grass her. Er habe seine Nazi-Vergangenheit verschwiegen, weil er sonst den Literaturnobelpreis wahrscheinlich nicht erhalten hätte – so der absurde Vorwurf. Da niemand das Buch lesen konnte und auch die FAZ erst eine Woche später einen Vorabdruck veröffentlichte, verselbstständigte sich die Medienkampagne im an Nachrichten armen Sommer. Plötzlich bekam das angekündigte Gespräch mit Grass in meiner Buchsendung eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit.
    Der NDR hatte einen großen Stab nach Møn geschickt, Übertragungswagen, Beleuchtungswagen, einen Wagen mit einem Generator. Denn das Haus von Grass liegt weit abseits, hatte jahrzehntelang sogar weder Wasser noch Elektrizität, war also für ein solches Fernsehprojekt nicht ausgerüstet. Am Nachmittag vor der Aufnahme des Gesprächs machte ich mit allen Beteiligten eine Vorbesichtigung.
    Das Wetter war schön. Die Sonne schien, ab und zu zogen Schäfchenwolken über den blauen Himmel. Für den nächsten Tag war das gleiche Wetter vorhergesagt. Wir suchten uns für die Aufnahme eine ruhige Stelle hinter dem Haus.

    Auf Møn gibt es kaum Hotels. Das Team und ich übernachteten in der alten Hotelvilla Liselund, die in einem weiten alten Park gut fünfzehn Kilometer von dem Haus der Grass’ entfernt liegt.
    Mein Zimmer lag unter dem Dach. Mitten in der Nacht wurde ich wach. Starker Regen prasselte an das Fenster. Es war kein Schauer. Es regnete stundenlang. Beim Frühstück regnete es immer noch. Wir baten die Hotelleitung um die Genehmigung, das Interview mit Günter Grass auf einer überdachten Terrasse von Liselund aufnehmen zu dürfen. Sie stimmten zu. Aber so etwas werden sie nie wieder tun. Denn plötzlich fiel ein Heu- schreckenschwarm über das Hotel, fuhren Lastwagen vor, zog ein Team von mehr als zwanzig Mann Kabel für Beleuchtung und Kameras und Mikrofone durch die Räume.
    Ich selber war aufgewühlt.
    Dass ich die Gelegenheit hatte, den Nobelpreisträger in einem heiklen Moment zu befragen, in dem alle Interessierten
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