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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition)
Autoren: Ulrich Wickert
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zumindest nach außen hin im Augenblick es auch noch nicht versteht.«
    Ich kann tatsächlich verstehen, dass Grass fühlt, er habe in seinem Umgang mit dem Zeugen Jehovas persönliche Schuld auf sich geladen. Der Dienst in der Truppe der Waffen-SS war eben nur Dienst in der Truppe. Manchmal schätzt man Dinge aus dem eigenen Leben ganz anders ein als die Umwelt. Ein, weiß Gott, banales Beispiel: Ich hatte in meiner Jugend ein einziges Mal Hasch genommen. Nur um es zu probieren. Irgendwann kam ein Journalist des Magazins MAX und wollte eine »ungewöhnliche« Geschichte aus meinem Leben aufschreiben. Journalisten fragen immer nach der »ungewöhnlichen« Geschichte. Mir fiel nichts ein. Außer vielleicht diese eine Sache mit dem Hasch. Für mich nichts als eine Randnotiz. MAX druckte das, was zu meiner »Haschbeichte« deklariert wurde und mir öffentlich moralische Verurteilung und eine bitterböse Schlagzeile in BIL D einbrachte.
    Mit der öffentlichen Verurteilung ist die deutsche Presse schnell zur Hand. Als Kurt Beck SPD-Vorsitzender war, schlug er 2007 vor, die gemäßigten Taliban an Friedensgesprächen in Afghanistan zu beteiligen. Dafür wurde er als tumb gescholten. In der WEL T hieß es dazu: »Wir begrüßen mit dem Narhallamarsch den großen Karnevalisten Kurt Beck.« Zwei Jahre später würde der amerikanische Präsident Barack Obama genau das Gleiche fordern und umsetzen. Da war Beck schon unser aller außenpolitischer Narr.

    In diesem April habe ich wieder einmal die Telefonnummer in Behlendorf gewählt. Günter Grass erzählte mir, am nächsten Tag erscheine in der Süddeutschen Zeitung ein Gedicht von ihm, in dem er vor einem israelischen Erstschlag gegen den Iran warne. Die ZEIT habe abgelehnt, es zu drucken.
    Noch bevor das Gedicht »Was gesagt werden muss« von Grass veröffentlicht worden war, stand schon in der WELT : »Grass ist der Prototyp des gebildeten Antisemiten, der es mit den Juden gut meint.« Ein Sturm der Entrüstung brach los. Das Gedicht schaffte es sogar in die Tagesschau um 20 Uhr und in die Tagesthemen!
    Ich bin heute noch sprachlos, wenn ich daran denke, mit welchem Hass und welcher Häme auch angesehene Journalisten über Grass herfielen. Das ging bis zu einem bösartigen Kommentar in den Tagesthemen. Selbst der Stern traute sich keine eigenständige kritische Meinung zu. Allerdings haben viele Zeitungen, wie die FAZ , oder Magazine, wie der SPIEGEL , sich dann doch in ihrem politischen Teil der von Grass erwähnten Thematik der deutschen U-Boot-Lieferungen an Israel bemächtigt. Sein Gedicht hatte schließlich eine große Wirkung.
    Als politischer Journalist würde ich die Situation nicht so formulieren, wie Grass es in seinem Gedicht tut. Aber ich halte die Lieferung von U-Booten als »Wiedergutmachung« schon für seltsam. Und so manches an der Politik der israelischen Regierung ist kritikwürdig. In Hebron etwa habe ich gesehen, wie israelische Siedlungspolitik reine Provokation ist. Kritik an israelischer Politik muss erlaubt sein. Da stimme ich mit StéphaneHessel und Alfred Grosser überein, die sagen und schreiben, dass die Menschenrechte für alle gelten. Auch für Palästinenser. Für diese Aussage »Menschrechte gelten auch für Palästinenser« sind die vor den Nazis geflohenen Juden Hessel, der das Konzentrationslager Buchenwald nur mit Glück überlebte, und Grosser auch als »Antisemiten« gescholten worden. Grosser wiederum sagte, in einem Interview der SZ zu Grass befragt, der Dichter habe vollkommen recht.
    Nachdem der Sturm über das Gedicht von Grass verklungen war, waren nachdenkliche Journalisten plötzlich darüber erstaunt, dass die Leserschaft ganz anders reagierte als die Journalisten, die offenbar mehr unter dem Druck von Tabus leiden.
    Mit der Frage von Tabus, die in Deutschland aufgrund der Geschichte des Dritten Reichs und der Vernichtung der Juden in deutschen Konzentrationslagern entstanden sind, habe ich mich besonders deswegen beschäftigt, weil ich in Frankreich erlebt habe, dass man mit seiner Geschichte auch anders umgehen kann. Staatspräsident François Mitterrand sagte mir einmal in einem Gespräch, in dem es auch um die deutsche Vergangenheit ging: »Jede Nation hat ihre guten und ihre schlechten Zeiten in der Geschichte. Das muss man hinnehmen.«
    Hinnehmen darf allerdings nicht Vergessen heißen. Denn Verdrängen ist falsch. Erinnern heißt wissen.
    Das Denken wird auch in Deutschland von vielen Tabus eingeschränkt.
    Tabus sind
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