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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition)
Autoren: Ulrich Wickert
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Denkhemmungen, die dann besonders gut wirken, wenn der Gehemmte sie nicht bemerkt.
    In meinem Buch »Deutschland auf Bewährung« befasse ich mich in dem Kapitel »Wider die Tabus« mit der Frage von Berührungsverboten. Dort schildere ich einige Beispiele von Denkhemmungen.
    1992 erschien der Roman »Vaterland« von Robert Harris und wurde in England zum meistverkauften Roman des Jahres und in der Kritik hochgelobt. Harris hatte sich eine wilde Geschichte ausgedacht: Die Deutschen hätten den Zweiten Weltkrieg gewonnen und Hitler, immer noch an der Macht, feiere 1964 seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. Und das Großdeutsche Reich hätte die eroberten Länder in einer »Europäischen Gemeinschaft« vereint. In Deutschland lehnten fünfundzwanzig Verlage ab, das Buch zu übersetzen. Es kam schließlich in dem Züricher Haffmans Verlag heraus. Die ZEIT freute sich, dass »kein deutscher Verleger sich für solch frivole Geschmacklosigkeit hergegeben« habe. Das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt erklärte, der Völkermord an den Juden sei »kein Stoff für Kolportage und historische Spekulationen«, und die in Hannover erscheinende Neue Presse fürchtete, hier werde »das wohl grauenvollste Ereignis der Weltgeschichte« skrupellos als Auflagenmacher missbraucht.
    Dort, wo das Tabu das freie Denken nicht einschränkt, wurde das Buch gelobt. Die Jerusalem Post schrieb, die Vorstellung von dem siegreichen Reich sei nur allzu glaubwürdig. Die Züricher Weltwoche hielt es für ein ernsthaftes und sehr verdienstvolles Buch – trotz aller Verkäuflichkeit.
    Das Tabu hat allerdings auf viele deutsche Leser nicht gewirkt. »Vaterland« wurde auch in Deutschland ein Bestseller. Darin liegt kein Widerspruch. Das Tabu wird von einer aktiven Minderheit in der Gesellschaft aufrechterhalten. Darüber setzt sich die passive Mehrheit hinweg: wie eben auch bei der öffentlichen Schelte gegen Grass wegen seiner Kritik an der israelischen Politik.
    Das Tabu »Auschwitz« gilt aber natürlich nicht für alle Menschen. Anfang der achtziger Jahre erschien das Buch über die Geschichte des Nazis Schindler, der Juden vor dem Tod im KZ rettete. Der Berliner Filmproduzent Artur Brauner, der 49 Verwandte im Holocaust verlor, wollte das Buch verfilmen und beantragte – wie das in Deutschland üblich ist – einen finanziellen Zuschuss von der Filmförderanstalt in Berlin. Doch die Subvention wurde als völlig unvorstellbar abgelehnt. Staatliches Geld gebe es nicht für eine vermeintlich mit Emotionen aufgeladene Kolportage, in der auch noch ein Nazi Juden rettet, statt sie zu vernichten.
    Als dann Spielbergs Verfilmung von »Schindlers Liste« in Deutschland uraufgeführt wurde, nahmen Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, und sein Stellvertreter Michel Friedman, Sohn von »Schindler-Juden«, an dem Ereignis teil. Denn jetzt lag die Verfilmung in Händen einer amerikanischen Produktionsgesellschaft, und Steven Spielberg ist amerikanischer Jude. Das gilt als Alibi für seine Ernsthaftigkeit, dass er nicht versucht, den Holocaust zu verniedlichen und die Nazis zu entschuldigen.
    Das Tabu Auschwitz wirkt in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein, nicht nur in Politik und Kultur. Kritische Historiker wie Heinrich August Winkler beklagen, dass selbst die historische Aufarbeitung der Nazi-Zeit Tabus unterliegt.
    Es gibt noch viele Beispiele, die ich hier anführen könnte – wie etwa die Aufregung um die Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum fünfzigsten Jahrestag der Reichskristallnacht (ich benutze diesen Begriff ganz bewusst statt das vermeintlich politisch korrekte Reichspogromnacht). Jenninger musste zurücktreten, weil er – so das Missverständnis – die Deutschen entschuldigen wollte. Die New York Times verteidigte Jenninger und schrieb, diejenigen, die Jenninger kritisierten, zögen Ruhe und äußerliche Korrektheit wirklichem Bemühen um Gerechtigkeit und Toleranz vor. Und als Ignatz Bubis einige Zeit später Jenningers Rede vor einem Publikum hielt, das nicht wusste, um welchen Text es sich handelte, erhielt er Beifall, wofür Jenninger das Amt des zweiten Mannes im Staate aufgeben musste.

    Im Oktober wird Günter Grass 85 Jahre alt.
    Und ich werde Ende des Sommers wieder einmal zu ihm nach Dänemark fahren, um für meine Sendung »Wickerts Bücher« bei NDR-Kultur ein Gespräch mit ihm aufzunehmen, das auch im NDR-Fernsehen
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