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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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Man tritt niemanden, der schon auf dem Boden liegt, dachte er. Aber das weiß sie natürlich nicht. Wofür sollte er sich entschuldigen? Er hatte es vergessen und seine Fünf bekommen. Er schwieg. Das blonde Gift schleuderte ihren silbernen Kuli auf den Lehrertisch, von dort sprang er irgendwohin. Jemand hob den Kuli auf und brachte ihn nach vorn. Sie bedankte sich nicht. Sie schlugen die Bücher auf.
    Wie hatte er glauben können, so davonzukommen? Er hatte das Wochenende von einem Augenblick auf den anderen vergessen wie einen Traum. Mit einer Vier in Russisch auf dem Halbjahreszeugnis konnte er nicht an der Schule bleiben. Mit dem Abitur war es jetzt vorbei. Gab ihm Gott eine zweite Chance?
    Er hatte ja nicht einfach nicht gelernt, er hatte mit anderen Dingen gerungen, mit den wesentlichen Fragen. Sollte das alles sinnlos gewesen sein?
    Er war überzeugt, daß es dieser Züchtigung bedurft hatte, um ihn an sein eigentliches Vorhaben zu erinnern.
    Selbst eine wie das blonde Gift, dachte Titus, macht der Allmächtige zu seinem Werkzeug.
    Als es zur Pause klingelte, fürchtete Titus, das blonde Gift könnte mit ihm reden wollen. Aber sie behelligte ihn nicht. Er lief quer über den Hof zum Nebengebäude. Die frische Luft tat gut. Im Mathematikzimmer stellte er sich ans offene Fenster, die Knie am Heizkörper. Er wartete, bis die Wärme durch den Stoff drang.
    Titus hoffte, Petersen würde ihn jetzt aufrufen und nicht bis zur letzten Stunde warten. Petersen begann das Lösen von Sachaufgaben zu wiederholen. »Schreiben Sie«, sagte er und ließseinen rechten Zeigefinger eine Art Kopfsprung ins Nichts machen. »Ein Güterzug transportiere mit insgesamt 38 Wagen 730 Tonnen Braunkohlebriketts. Einige Wagen seien mit 15 Tonnen, die anderen mit 20 Tonnen beladen. Wie viele Wagen von jeder Art sind es? Zweitens …« Titus hörte das Wispern, spürte die Angst, daß Petersen ihnen eine Kurzkontrolle diktieren könnte. Doch Petersen ließ wieder seinen Zeigefinger springen und wiederholte: »Zweitens! Ein Panzer der Nationalen Volksarmee habe einen Weg von 230 Kilometern zurückgelegt. Im ursprünglich vollen Kraftstofftank befinden sich noch 40 Liter. Könnte der Kraftstoffverbrauch je 100 Kilometer um 15 Liter eingeschränkt werden, so würde dieser Panzer einen Aktionsradius von 270 Kilometern haben. Wie groß ist das Fassungsvermögen des Tanks? Wieviel Kraftstoff wird für 100 Kilometer verbraucht. Drittens! Ein Aufklärungsflugzeug der NVA …« Titus schrieb. Aufgaben wie diese beherrschte er. Petersen mußte die Klasse für zwanzig Minuten verlassen. Peter Ullrich wurde als Verantwortlicher für Ruhe und Ordnung eingeteilt.
    Es blieb auch still, nachdem Petersen das Zimmer verlassen hatte.
    Joachim war nach zehn Minuten fertig, Titus gerade noch rechtzeitig vor Petersens Rückkehr.
    »Ich gehe davon aus«, rief Petersen von der Tür her, »daß sie die Ergebnisse bereits verglichen haben. Gab es Probleme?«
    Niemand meldete sich.
    Petersen sah mit halbgeöffnetem Mund umher, hob den Arm, fragte erneut: »Keine Probleme?« und nickte mehrmals anerkennend. Er suchte nach einem geeigneten Stück Kreide und schrieb an die Tafel: »Gleichungssysteme mit mehr als zwei Variablen«.
    Titus begann eine neue Seite und unterstrich die Überschrift zweimal. Petersen sagte, er wolle sich dabei nicht lange aufhalten, denn wer die Lösungsverfahren für Gleichungssystemebeherrsche, was ja jeder vorhin habe überprüfen können, bekäme damit keine Probleme. Es handle sich um nichts weiter als eine Erweiterung des Einsetzungsverfahrens. Das Verfahren beruhe auf der schrittweisen Reduzierung der Anzahl der Variablen und Gleichungen jeweils um 1.
    Fünf Minuten später schrieb Petersen drei Gleichungen an und wandelte die erste bereits um. Das Einsetzungsverfahren leuchtete Titus ein.
    Kurz darauf warf Petersen die Kreide auf den Lehrertisch, trat neben die Tafel und schob sich die Brille zurecht. Wer die Gleichungen skeptisch betrachtete, lief Gefahr, nach vorn gerufen zu werden.
     
    [Brief vom 4. 7. 90]
    Offenbar reichte es, ein bestimmtes Prinzip zu beherrschen. Alles andere ergab sich daraus. Titus wunderte sich, wie rätsellos derartige Zahlenreihungen werden konnten.
    Petersen gab keine Hausaufgaben auf und beendete noch vor dem Klingeln die Stunde. Auf dem Weg zur Tür hielt er inne. »Alles verstanden, Titus?« fragte er. Petersens Finger zappelten wie Marionetten neben der Federmappe. Titus hob den Kopf, sagte »Ja«,
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