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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
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sobald sich jemand meldete, die zweite Satzhälfte. »… ständige Verschärfung der Ausbeutung. Das ist das Wolfsgesetz des Kapitalismus. Das Wolfsgesetz bewirkt a) eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte und deren Hemmung, b) verstärkte Ausbeutung und Ruin großer Teile der Bauernschaft und der kapitalistischen Unternehmer, c) Kampf um Absatzmärkte und Rohstoffe, Klammer auf, Kriege, Neokolonialismus, Klammer zu.«
    Dr. Bartmann wischte das Kästchen mit dem angeeigneten Profit weg. »Das führt zu 9.1.2.3. Der Grundwiderspruch des Kapitalismus, neue Zeile, Zitat, Anführungsstriche: Die Bourgeoisie hat, Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen, massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen, Punkt, Ausführungsstriche, Klammer auf, Marx, Engels, Manifest, Klammer zu. Jetzt nicht mitschreiben, weil das erst für die nächste Stunde ist, nur zum Mitdenken.« Und dann schrieb Dr. Bartmann, ohne ein Wort zu sagen, die Worte an die Tafel: »Der Widerspruch zwischen demgesellschaftl. Charakter der Produktion und der privatkap. Aneignung ist der Grundwiderspruch des Kapitalismus.«
    Er trat neben die Tafel, wies mit der flachen Hand auf das Geschriebene und sagte: »Daraus leitet sich der antagonistische Klassengegensatz zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie her!« Ins Klingeln hinein rief er: »Was gesetzmäßig die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zur Folge hat – Freundschaft!«
    Die ersten, die aufsahen, erwiderten den Gruß leise, als führten sie Selbstgespräche.
    Dr. Bartmann machte eine Notiz ins Klassenbuch, versenkte den Zeitungsausschnitt in seiner Aktentasche und ließ diese zuschnappen.
    »Ich hab ein ganz dummes Gefühl«, sagte Joachim, der neben der Bank wartete, »ein ganz dummes.«
    Titus räumte seine Sachen zusammen. Als er Joachim ansah, begriff er, daß ihrer Freundschaft nur noch ein paar Stunden blieben. Joachim würde sagen, daß man seine Hände nicht in Unschuld waschen könne und daß man bereit sein müsse, Vater und Mutter zu verlassen.
    Joachim sprach, während sie die Treppe hinuntergingen. Selbst als sie sich im Russischzimmer auf ihre Plätze gesetzt hatten, redete Joachim weiter, so daß Titus seine Sachen noch nicht ausgepackt hatte, als das blonde Gift, wie Joachim Frau Berlin nannte, in der Tür erschien.
    Das blonde Gift ließ sich Zeit. Je länger das »Rumgezuckle« und »Rumgehample« dauerte, um so unnachsichtiger würde sie in der Stunde sein.
    »Sdrastwuitje!« rief das blonde Gift, und die Klasse antwortete im Chor: Sdrastwuitje! Reglos verharrten sie, niemand setzte sich. Das blonde Gift zwinkerte. »Choroscho, saditjes, poshaluista, wer sagt’s denn, der Mensch ist lernfähig. Wot!« Und nacheiner kurzen Pause, in der sie das Klassenbuch aufschlug, wandte sie sich von Bankreihe zu Bankreihe. »Wy gotowy? Wy gotowy? Wy gotowy?« Jedesmal ließ sie für einen Augenblick ihr Kinn hängen und blinzelte mit wackelndem Kopf wie eine Schwachsinnige. Titus hatte genickt, als ihr Blick in seine Nähe gezielt hatte. Er glaubte, sie habe gefragt, ob sie bereit seien zum Unterricht. Doch bei dem folgenden »Kto chotschet?« durchfuhr es ihn heiß.
    »Oje«, flüsterte Titus, »wir haben den Dialog vergessen.«
    Peter Ullrich und seine Banknachbarin begannen, ihr einstudiertes Stück aufzusagen. Joachim zuckte mit den Schultern. Natürlich, es war unter seinem Niveau, sich vorzubereiten. Diese Dialoge waren etwas für Schüler wie Titus, die bereits eine Vier hatten.
    Die Klasse lachte. Peter Ullrich war gut in Russisch, er hatte ein paar Monate in Leningrad verbracht und glänzte durch seine gurrende Aussprache.
    »Ich fang an«, flüsterte Joachim. Und wenn er hundertmal begänne, das würde ihm, Titus, gar nichts nützen. Entschuldigungen zählten nur, wenn man sich zu Beginn meldete.
    Das blonde Gift stellte Fragen, und Titus versuchte sich zu merken, was Peter Ullrich antwortete. Peter Ullrich bekam eine Jediniza, schon die dritte, wie das blonde Gift überrascht bemerkte, aber als Offiziersanwärter stehe ihm das gut zu Gesicht. Seine Banknachbarin erhielt ebenfalls eine Jediniza – damit honoriere sie auch die Freiwilligkeit, sagte das blonde Gift.
    Martina Bachmann in der Bank vor ihnen meldete sich, und das blonde Gift rief: »Sieh da, ein Wunder!« Titus war ihr dankbar, weil die Wahrscheinlichkeit, daß nun auch noch sie aufgerufen würden, gering war. Martina Bachmann wollte nur
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