Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition)
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
choroscho?«
    »Fsjo choroscho!« rief Joachim.
    »Spassibo«, sagte Titus. »Do swidanija.«
    Gleichzeitig legten sie die imaginären Hörer auf. Das blonde Gift sagte »Otlitschno« und »Spassibo« und setzte sich an den Lehrertisch. Sie wies Joachim auf zwei Fehler hin, lobte die Lebendigkeit des Gespräches und sagte, wobei sie Titus zuzwinkerte, daß man auch mit begrenzten Mitteln zum Ziel käme, wenn man sich nur bemühe. Sie sagte sogar etwas von Talent zur Schauspielerei und bescheinigte Titus ein Pokerface. Als sie die Noten ins Klassenbuch schrieb, machte sie zweimal dieselbe Bewegung.
    Was war er doch für eine armselige Kreatur, die ihr Heil in einer Zensur suchte, einer Zensur im Russischunterricht. Dafür hatte er Gott angefleht? Und Joachim, den er belog, dem er immer noch nicht gestanden hatte, daß er den Vortrag vorlesenwollte, dieser Joachim hatte ihn gerettet. War das nicht ein Zeichen? Eine unerwartete Wendung, an die er selbst in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht hätte? Würde ihn Gott nicht führen, wenn er sich für ihn entschied, so wie er ihn eben geführt hatte? War nicht Joachim das beste Beispiel? Wollte er denn nicht werden wie er?
    Titus starrte auf die neuen Vokabeln, die sie durchgingen, er sprach mit im Chor, aber das waren bedeutungslose Laute und Silben.
    Für einen Augenblick wagte er den Gedanken, daß Gott ihn zur Belohnung für seine Aufrichtigkeit mit ähnlichen Fähigkeiten, wie Joachim sie besaß, auszeichnen würde. Konnte er sich denn nicht aus freien Stücken entscheiden, das Notwendige zu tun?
    »Pokerface«, flüsterte Joachim mit dem Stundenklingeln. »Pokerface« aus Joachims Mund zu hören gefiel Titus.
     
    und machte »Klingelingeling«. In diesem Moment glaubte Titus, etwas Eisiges berühre ihn, etwas, das sein Blut gefrieren ließ.
    »Klingelingeling«, machte Joachim zum zweiten Mal. Warum zog er ihn da mit hinein? Titus tat, als nehme auch er den Hörer ab. »Allo?« Er wußte nicht, ob die Klasse wegen des Schauspiels lachte oder weil seine Stimme so kläglich klang. »Sdejs goworit Joachim, sdrastwuitje!«
    »Sdejs goworit Titus, sdrastwuitje.« Titus stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, die Knöchel seiner Finger am rechten Wangenknochen. Er sah auf Martina Bachmanns Rücken, auf die Stelle zwischen Lehne und Haarspitzen.
    »Fsjo choroscho?«
    »Fsjo choroscho«, wiederholte Titus.
    »Ja chotschu priglassit tebja …« Titus hoffte, es würde schnell vorüber sein.
    »Spassibo«, antwortete Titus.
    Joachim reihte Satz an Satz. Pirouetten, dachte Titus. Das letzte Wort war eine Frage. Titus nickte. Er wollte zeigen: Ich weiß, jetzt bin ich dran. Er hatte sogar den Sinn der Frage verstanden. Aber so schnell ging das bei ihm nicht. Er wollte sagen, daß er die Einladung selbstverständlich annehme und hoffe, mit den Hausaufgaben schnell fertig zu werden, um ihm, Joachim, bei den Vorbereitungen zu helfen. Er wollte fragen, wer außer ihm noch eingeladen sei und ob er vielleicht etwas mitbringen solle und ob Joachim einen bestimmten Wunsch für sein Geburtstagsgeschenk habe.
    Joachim sagte: »Nu?« und begann von neuem. Einige lachten. Titus sagte: »Da.«
    Joachim quasselte weiter. Titus sagte noch einmal: »Spassibo.« Es machte keinen Unterschied, ob er sprach oder schwieg. Titus spürte die eigene Hand an der Wange. Er konnte sich selbst sehen. Joachim flüsterte etwas, aber da sonst niemand sprach, hörten es alle. Er würde es nicht wiederholen. Das verbot ihm sein Stolz. Titus hörte seinen Schuh, der auf den Boden tippte.
    Joachim redete von Büchern, Schallplatten, Theater und sogar etwas über Fußball. Titus wollte nichts mehr sagen. Sie sollte ihm endlich eine Fünf geben und ihn in Ruhe lassen. Nicht blondes Gift sollte sie heißen, sondern Kreissäge, ihre Stimme war eine Kreissäge. Joachim schwieg.
    Titus, aufgefordert, dem blonden Gift in die kleinen Augen zu sehen, hob den Kopf. Es war ihm egal, was aus ihrem verwaschenen Mund kam. »Ich hatte es vergessen«, sagte er und verschlimmerte damit nur alles. Neben ihm wurde sogar Martina Bachmann zur Heldin.
    Er hatte tatsächlich Besseres vorgehabt, als so einen Unsinn zu lernen, den er sowieso nie brauchen würde.
    Titus sah sich wieder in der hellen Welt, in der er sich gesternaufgehalten hatte, in einer Welt, in der für das blonde Gift kein Platz war.
    Trotzdem war Titus überrascht, daß sie ihm tatsächlich eine Fünf einschrieb. Warum hackte sie noch weiter auf ihm herum?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher