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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn
Autoren: Marcia Muller
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als
Harry brüllte: »Dies ist meine Ecke! Verschwinde!«
    Zu meiner Überraschung funkelten die
Augen des anderen Mannes, und sein Mund war noch immer zu einem Lächeln
verzogen. Hinter mir war eine Menschenmenge zusammengelaufen, und er wandte den
Kopf und erklärte: »William Butler Yeats. ›The Leaders of the Crowd.‹ Also, das
war ein Mann, der wirklich über Gott Bescheid wußte.«
    Harrys Gesicht lief rot an, und er
schüttelte den Mann immer weiter, wobei seine Plakatbretter heftig wackelten.
Der andere Mann lächelte bloß, sein Kopf pendelte hin und her. Harrys Gesicht
wurde noch röter, vor Wut und auch vor Anstrengung. Gerade als es aussah, als
würde er den Mann wirklich verletzen, trat jemand hinter ihn und packte seinen
Arm oberhalb des Ellenbogens.
    »Laß ihn los, Harry«, befahl der
Neuankömmling.
    Harry wirbelte herum, klammerte sich
immer noch an dem Poesieliebhaber fest. »Nimm deine dreckigen Fäuste weg,
Otis.«
    »Ich sagte, laß los.«
    Harry warf noch einen Blick auf den
anderen, schüttelte ihn ein letztes Mal und ließ ihn dann zögernd los, wie ein
junger Hund seinen Knochen. Der Mann taumelte ein paar Schritte zurück, immer
noch lächelnd, und steckte die Hände in die Jackentaschen. Dann blieb er stehen
und wippte auf den Füßen.
    Ich betrachtete den Mann, der die
Streithähne auseinandergebracht hatte. Er war schlank, mit feinem hellbraunen
Haar, trug Jeans, ein leuchtendes rotes Cowboyhemd und kunstvoll gefertigte
Lederstiefel mit fünf Zentimeter hohen Absätzen. Er ließ den Arm des
Straßenpredigers los, warf einen Blick auf den bärtigen Mann und erklärte: »Hau
ab, Jimmy. Geh und zitiere deine Gedichte anderswo.«
    Der Mann, den er Jimmy genannt hatte,
grinste ihn nur an.
    »Hau ab!«
    Achselzuckend schlenderte Jimmy über
die Straße. Als er den gegenüberliegenden Bürgersteig erreicht hatte, blieb er
dort stehen und machte ihm eine lange Nase.
    Der Cowboy seufzte und wandte sich
wieder dem Straßenprediger zu. »Warum läßt du dich so von ihm aufregen, Harry?
Du weißt doch, Jimmy liebt es, dich auf hundertachtzig zu bringen.«
    Harry starrte wütend zu Jimmy hinüber.
Ein Muskel zuckte in seiner Wange. »Otis, dieser Hurensohn stört meine Predigt
immer wieder. Ich sollte ihn umbringen, ihn und seinen William Butler Yeats.«
    »Na ja, Harry, soviel ich weiß, ist
dieser Yeats seit Jahren tot. Und Jimmy umzubringen würde keine gute Werbung
für dich bedeuten.« Der Cowboy namens Otis winkte heftig, damit Jimmy ging.
Aber der zeigte ihm nur wieder die lange Nase.
    »Da— siehst du, Otis?« fragte Harry.
»Er wird dort stehen bleiben und meine Predigt stören. Wie soll ich zu diesen
Sündern durchdringen, wenn er das tut?«
    »Ich glaube, im Moment wirst du das
nicht schaffen. Warum machst du also nicht einfach eine Pause? Es wird ihm schon
langweilig werden, wenn du woanders hingehst.«
    »Aber ich bin gerade so gut warm
geworden.«
    »Mach eine Pause, Harry.«
    Zorn blitzte auf dem fleischigen
Gesicht des Straßenpredigers auf, aber dann drehte er sich um und marschierte
schwerfällig zurück zu seinem Stück Teppich. Er bückte sich ungeschickt, rollte
den Teppich zusammen, stand auf und schob ihn unter seine Plakate. »Manchmal
glaube ich, du bist auf seiner Seite, Otis«, bemerkte er.
    Otis seufzte wieder. »Das ist dein
Problem, Harry. Du verstehst die Menschen nicht. Ich bin auf meiner Seite. Meiner. Und niemandes sonst.« Damit drehte er sich um und marschierte
ins Sensuous Showcase Theatre.
    »Pah. Ich und die Leute nicht
verstehen.« Harry warf Jimmy einen letzten bösen Blick zu und bog dann um die
Ecke in die Jones Street ein.
    Ich schaute zu dem bärtigen Mann
hinüber und sah, wie sich sein Gesicht veränderte. Er schob die Fäuste in die
Taschen, trat ein-, zweimal gegen die Bordsteinkante und schlurfte schließlich
davon, wobei er verzagt den Kopf hängen ließ. Die kleine Menge, die sich
versammelt hatte, fing an, sich aufzulösen.
    Ich betrachtete die Markise über dem
Eingang zum Theater. Etwas mit dem Titel Rajah wurde zusammen mit A Mother’s
Love und The Reluctant Couple gegeben. Ich warf einen Blick auf meine
Armbanduhr und stellte fest, daß mir noch Zeit blieb. Also folgte ich dem Mann
namens Otis.
     
     
     

VIERTES
KAPITEL
     
    Da sich niemand am
Kartenverkaufsschalter befand, als ich hinkam, ging ich einfach weiter ins
Theater. Der Mann namens Otis stand an einer Seite der Tür und unterhielt sich
mit einer stark geschminkten Frau mit
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