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Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg

Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg

Titel: Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Autoren: Else Ury
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trotz allem Frohsinns und Übermuts zu einem verständigen Mädchen.
    Auch äußerlich hatte sich Annemarie gut entwickelt. Sie überragte bereits die Großmama, und die Blondzöpfe hingen ihr jetzt lang den Rücken herab. Freilich strubbelig sahen die noch immer aus, denn ein Wildfang war und blieb Nesthäkchen.
    Trotz der bescheidenen Ernährung, welche die wirtschaftliche Lage in Deutschland jetzt notwendig machte, blühte Annemarie wie ein Maienröschen. Nicht umsonst war der lange Aufenthalt an der Nordsee gewesen.
    Auch im Hause zeigte es sich, wie günstig die Kriegszeit auf Doktors Nesthäkchen gewirkt hatte. Es war rührend, mit welcher Liebe sie für die Großmama sorgte. Jetzt war Annemarie schon groß genug, um einzusehen, was für ein Opfer Großmama ihnen gebracht, daß sie das stille Behagen und die gewohnte Ruhe des eigenen Heims auf so lange Zeit mit dem geräuschvollen und anstrengenden Aufenthalt bei den lebhaften Enkelkindern vertauscht hatte.
    Man schrieb den 30. April 1916. Das war ein ganz merkwürdiger Tag. Eigentlich aber war es erst die Nacht zum 1. Mai. Da erdreisteten sich die Menschen, jetzt sogar schon an dem Zeiger der großen Weltenuhr zu rücken. Die Zeit, die seit Urbeginn ihren gleichmäßigen Schritt gegangen, die wagten Menschen jetzt aus ihrem ewigen Geleise zu bringen. In ganz Deutschland sollten sämtliche Uhren in der Nacht zum 1. Mai um eine Stunde vorgerückt werden. Der Tag sollte während der Sommermonate eine Stunde früher beginnen. Dadurch sparte man des Abends Beleuchtung, vielmehr das Material dazu, wie Kupferdraht, Kohlen und Petroleum. Es hieß jetzt während des Krieges mit allem haushalten.
    Großmama fand sich nicht mehr in der Welt zurecht. Sie hatte sich während der letzten Monate in vieles fügen gelernt, was sie ihr langes Leben lang anders gewohnt war. Aber daß der Krieg nun auch die Zeit noch verändern sollte, das wollte ihr nicht in ihren alten Kopf.
    »Ich bin altmodisch, ich lebe ruhig weiter, wie ich nun schon fast siebzig Jahre gelebt habe«, äußerte sie sich.
    »Ich ooch, jnädije Frau, ich mach' den Rummel nich mit«, pflichtete Hanne ihr bei. »Wenn es sechsen is, denn is nich sieben, nee, ich bin doch noch nich janz und jar varrickt!«
    Annemarie kam Arm in Arm mit Margot und Vera aus der Schule; der Jugend macht die große Umwälzung ungeheuren Spaß.
    »Wenn ich bloß morgen nicht verschlafe und pünktlich um sieben in der Schule bin!«, regte sich Margot auf.
    »Um acht meinst du - -«, lachte Annemarie.
    »Na, aber morgen geht's doch schon nach der neuen Zeit«, die Mädel wollten sich ausschütten vor Lachen. Man wurde wirklich ganz wüst im Kopf.
    »Ich lege mich heute eine Stunde früher ins Bett«, überlegte Vera.
    »Fällt mir ja nicht im Traum ein. Im Gegenteil, ich möchte so schrecklich gern nachts um elf mit Klaus nach dem Rathaus. Klaus sagt, da sieht man, wie es plötzlich eine Stunde später wird. Das muß großartig sein.«
    »Ja, erlaubt denn das deine Großmama, daß du so spät noch fortgehst?«, verwunderte sich Margot.
    »I bewahre – ich möchte ja auch bloß gern. Also auf Wiedersehen, morgen zur deutschen Sommerzeit – hurra – da sind wir alle eine Stunde älter geworden!«, übermütig trennten sich die Freundinnen.
    Nach dem Mittagessen winkte Klaus der Schwester mit vielsagendem Gesicht.
    »Na, Annemarie, wie ist es, kommst du heute nacht mit nach dem Rathaus?«
    »Ach, Kläuschen, Großmama wird es nie und nimmer zugeben - - -«
    »Ja, wenn du auch so dämlich bist, noch zu fragen!« Kläuschen, der Bösewicht, sah die jüngere Schwester verächtlich an.
    »Fräulein merkt es doch, wenn ich auskneife«, Annemarie wäre brennend gern mitgegangen.
    »Quatsch mit Soße, Fräulein schnarcht wie 'ne Ratze. Wenn du keine Lust hast, dann laß es bleiben. Dann gehe ich eben allein. Aber das kann ich dir sagen, noch mal wirst du so was Großartiges in deinem ganzen Leben nicht zu sehen bekommen – das ist heute nacht ein welterschütterndes Ereignis. Und Pflicht eines jeden gebildeten Menschen ist es, demselben beizuwohnen.« Das klang so überzeugungsvoll, daß Nesthäkchen sich ganz ungebildet vorkam, daß es überhaupt noch schwanken konnte.
    »Ich werde mal sehen. Wenn Fräulein schläft, komme ich vielleicht mit«, sagte Annemarie schließlich, schon halb gewonnen.
    Den ganzen Nachmittag befand sie sich in begreiflicher Aufregung. Kaum vermochte sie die Gedanken für ihre Schularbeiten zu sammeln.
    Sollte sie,
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