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Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg

Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg

Titel: Nesthäkchen 04 - Nesthäkchen und der Weltkrieg
Autoren: Else Ury
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arm war die Trude, daß sie nicht einmal ein Bett besaß? Und kein Sofa im Zimmer, nur die notwendigsten Möbel – in der Ecke auf der Erde der Strohsack. Annemarie tat das Herz weh. Zum erstenmal sah sie der Not so grade ins Angesicht. Und da hatte sie die arme Trude durch ihren dummen Stolz noch um ein paar frohe Stunden gebracht?!
    »Ich komme bald wieder, sehr bald, Trude«, versprach Nesthäkchen beim Abschied.
    Und das führte Annemarie auch aus. Sie überwand die Abneigung gegen das düstere, schmutzige Haus mit der Armleuteluft tapfer, um der kranken Trude durch ihren Besuch eine Freude zu machen. Bald brachte sie ihr ein hübsches Buch mit, bald einen besonders schönen Apfel oder ein Stückchen Kuchen, das sie sich selbst vom Munde abgespart. Doktors Nesthäkchen hatte es gelernt, an andere zu denken.
    Gleich am nächsten Tage ließ die gute Großmama ein altes Bettsofa aus ihrer eigenen Wohnung in das armselige Stübchen bringen. Von nun an brauchte Trude nicht mehr auf dem Strohsack zu liegen. Jeden Abend trug Hanne der blinden Frau und ihrem Töchterchen das Essen zum nächsten Tage hin. Und das tat sie aus eigenem Antrieb, denn »man hat doch auch 'n Herz im Leibe.«
    Aber als die Weihnachtskerzen zum zweitenmal das Dunkel der Kriegszeit durchleuchteten, da ward auch in das Stübchen der Not ein brennendes Tannenbäumchen geschoben. Und ein großer Korb dazu mit Eßwaren und praktischen Dingen. Obenauf aber lag das nette, rote Kleid, das Annemarie und die Kränzchenschwestern eigenhändig für das Kriegskind genäht hatten.

Butterpolonäse
     
    Der Aushungerungsplan Englands durch Absperrung der Lebensmittelzufuhr begann sich allmählich in Deutschland fühlbar zu machen. Die Lebensmittel, besonders die Fette, wurden knapp. Aber trotz alledem durften die Engländer ihren schändlichen Plan, Deutschland durch Aushungerung zu einem schmählichen Frieden zu zwingen, nicht verwirklichen. Das deutsche Volk hielt durch, selbst wenn die Butter ganz vom Brot verschwand, selbst wenn statt der zwei fleischlosen Tage in der Woche deren sieben eingeführt werden sollten.
    Wie draußen an der Front die Männer, so standen daheim die Frauen und Kinder tapfer und opferfreudig im Kampf gegen jederlei Entbehrungen, alle von demselben Willen beseelt: »Wir müssen siegen!«
    Dank glänzender Einteilung und sparsamer Fürsorge der Regierung wurde mit den Vorräten weise hausgehalten, daß Deutschland auf Jahre hinaus versorgt war. Da gab es Brot- und Mehlkarten, Eier-, Butter- und Fleischkarten, Kartoffel- und Milchkarten, ja selbst solche für Seife.
    Jetzt galt es, auch seine Gedanken bei jedem Einkauf zusammenzuhalten, und das wurde nicht jedem leicht.
    Doktors Nesthäkchen, das mit seinen Gedanken oft ganz wo anders weilte, als wo sich seine kleine Person gerade befand, wußte bald ein Lied davon zu singen.
    Annemarie holte für ihr Leben gern ein. Und galt es gar, der lieben Großmama einen Weg abzunehmen, dann war Nesthäkchen doppelt schnell bereit. Früher machte es der alten Dame Spaß, selbst einige Besorgungen zu übernehmen. Aber seitdem die Lebensmittel auf Karten ausgegeben wurden, war das für Großmama viel zu anstrengend. Sie konnte sich unmöglich in der Menge drängen und lange stehen, bis sie an der Reihe war. Einmal war die alte Dame selbst gegangen und nie wieder. Als sie nach langem Warten glücklich bedient werden sollte, hatte sie statt der Zuckerkarte die Milchkarte aus der Tasche gezogen, und als sie schnell den Schaden gut machen wollte, erschienen Fleischkarte und Kartoffelkarte auf der Bildfläche. Nun mußte erst die Brille herausgeholt werden, was bei alten Leuten immer etwas umständlich zu sein pflegt. Die andern Käufer, die sich in Scharen drängten, waren ärgerlich, daß sie solange aufgehalten wurden, und auch die Verkäuferin verlor die Geduld und die ihr zukommende Höflichkeit. Nein – nie wieder ging die Großmama jetzt einkaufen.
    Meistens fiel Fräulein diese Aufgabe zu, da Hanne mit der Wirtschaft reichlich zu tun hatte. Aber während der Sprechstunden konnte Fräulein schlecht fort. Es kamen immer noch Patienten, die nicht wußten, daß Doktor Braun im Felde war, und die seinem Vertreter überwiesen werden mußten. Das verstand Fräulein am besten.
    Da ward öfters Nesthäkchen das Ehrenamt, für die ‚Lebensmittelzufuhr‘ des Braunschen Hauses zu sorgen. Annemarie entledigte sich dieser Aufgabe mit viel Geschick. Es kam ihr gar nicht darauf an, stundenlang vor einem
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