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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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ließ uns keine großen Möglichkeiten, wählerisch
zu sein. Wir fanden einen Tisch unter einer düsteren Piranesi-Reproduktion,
sie entschuldigte sich dafür, dass sie sich mir so aufdrängte, und ich
erklärte meinerseits, dass ich nur dankbar war, mal wegzukommen. Wir
bestellten eine Karaffe Rotwein und einen Käseteller. Sie erzählte mir von
ihrem Leben.
    Dass
sie Künstlerin sei. Dass sie erst vor einigen Monaten nach Aarlach gezogen sei,
nachdem sie sich von ihrem Mann habe scheiden lassen, der auch Künstler war und
in ihrer gemeinsamen Wohnung in Berlin geblieben war.
    Dass
sie keinerlei Hintergedanken hege - sie benutzte genau dieses Wort, Hintergedanken
- und dass ich mich in keiner Weise gezwungen
fühlen solle, hier bei ihr zu sitzen und mit ihr zu reden, wenn mir nicht
danach war. Erneut versicherte ich ihr, dass sie sich deswegen keine Gedanken
machen müsse, und fügte hinzu, was meine Person betreffe, so hätte ich meine
Scheidung schon etwas länger hinter mir, gut anderthalb Jahre.
    Außerdem
betonte ich, dass ich seit zwei Monaten unterwegs sei und über mein Buch
spreche und mich etwas erschöpft fühle, sowohl physisch als auch psychisch.
    Dann
müssen wir eine Weile über die Bedingungen schöpferischer Arbeit gesprochen
haben, ich glaube, wir verglichen die unterschiedlichen Voraussetzungen fürs
Schreiben und Malen - den sprachlichen bzw. bildlichen Ausdruck -, aber inzwischen
kann ich mich nicht mehr genau an unser Gespräch erinnern, und
höchstwahrscheinlich kamen wir auf keine neuen Erkenntnisse. Aber ich weiß,
dass ich sie fragte, ob sie in irgendeiner Weise geholfen habe, den
abendlichen Autorenauftritt zu organisieren, weil sie beim Nachklapp im
Restaurant dabei war. Sie erklärte, dass sie den Kulturredakteur der Zeitung
kenne, die die Veranstaltung gesponsert hatte, und dass sie ihn ganz einfach
gebeten hatte, doch mitkommen zu dürfen.
    »Und
der Grund dafür?«, wollte ich wissen.
    »Ihr
Buch«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Ja, genauer genommen dieses Gedicht.«
    Ich
erklärte, dass es mir schwer falle, ihr in diesem Punkt Glauben zu schenken,
sie saß eine Weile schweigend da, ohne den Blick von mir zu wenden, es schien
mir, als würde sie irgendwie mit sich kämpfen. Als hätte sie sich noch nicht
entschlossen. Anschließend beugte sie sich nach unten und holte ein schwarzes
Notizheft aus ihrer Tasche, die sie neben ihren Stuhl auf den Boden gestellt
hatte.
    Sie
blätterte einige Sekunden lang darin hin und her, dann räusperte sie sich und
las erneut die Zeilen vor, die sie bereits im Restaurant zitiert hatte.
    »Sechs
Fuß unter der Erde,
    in
der Morgenröte,
    zwei
blinde Würmer, die verweilen...«
      Ich
nickte und spürte erneut Unbehagen in mir aufsteigen. Nach einer kurzen Pause
las sie vier weitere Zeilen.
    »...
die verwundert
    den
Stimmen von oben lauschen,
    die
Richtung ändern und aufeinandertreffen,
    wie
aus Zufall.«
    Ich
murmelte etwas, irgendwas, sie klappte das Heft zu und betrachtete mich mit
einem neuen, fast mahnenden Blick.
    »Die
Perspektive des Gärtners kam im September heraus,
nicht wahr?«
    »Ja,
am zwölften, das stimmt.«
    »Und
wir sind uns noch nie begegnet?«
    »Das
müsste ich auf jeden Fall wissen.«
    »Und
die paar Zeilen, die ich eben gelesen habe, auf Seite
zweihundertsechsundzwanzig in Ihrem Buch, stammen von diesem fiktiven
russischen Poeten?«
    Ich
zuckte mit den Schultern. Mein Unbehagen wuchs beträchtlich. »Ja, sicher.«
    Sie
verzog kurz den Mund und verschränkte die Hände um das Glas, das vor ihr auf
dem Tisch stand. »Dann kommen wir zu des Pudels Kern. Die Gedichtzeilen, die
ich vorgelesen habe, stammen nicht aus Ihrem Roman. Ich habe sie selbst genau
in dieses Notizbuch geschrieben, und zwar Mitte Mai. Können Sie mir dafür eine
vernünftige Erklärung geben?«
    »Wie
bitte?«
    Sie
räusperte sich und wiederholte. »Ich habe diese Zeilen vier Monate, bevor Die
Perspektive des Gärtners herausgekommen ist,
geschrieben. Haargenau so, wie sie in Ihrem Buch stehen. Wort für Wort. Dafür
hätte ich gern eine Erklärung.«
    Ich
saß schweigend da. Die Gedanken schlugen Salto in meinem Kopf.
    »Das
ist nicht möglich«, sagte ich schließlich.
    Ein
Gedanke blieb jedoch haften. Sie ist wahnsinnig, sagte er.
    Die
Frau, die dir gegenüber in dieser verfluchten Bar in dieser gottverlassenen
Stadt Aarlach sitzt, ist durch und durch wahnsinnig. Das hättest du sofort
bemerken müssen.
    Trink
dein Glas aus und geh umgehend zurück ins
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