Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
Vom Netzwerk:
Sarah zugeordnet ist. Ich trinke meinen Kaffee aus und sehe
Winnie unten bei dem Gitarrengeschäft um die Ecke kommen. Ich spüre einen
heftigen Schmerz im Herzen; von all diesen Menschen, in dieser wimmelnden
Vielfalt, sehe ich plötzlich nur noch sie. Ich weiß, dass ich mir manchmal
wünsche, das uns verbindende Band wäre nicht so stark. Dass auch sie nur eine
Illusion wäre, die ich mit angenehmem Abstand genießen könnte. Aber in diesem
Moment wünsche ich mir das nicht, ich habe das Gefühl, als wäre sie ein Teil
meines Blutkreislaufs.
    Wir
gehen hinauf in unsere Wohnung. Die eigentlich nur aus einem einzigen großen
Raum besteht; an einer Wand die Küchenzeile, das Schlafzimmer hat die Größe
eines gewöhnlichen Schranks, und oben unter dem Dach befindet sich ein Loft von
einigen Quadratmetern, wo Gäste für eine Nacht unterkommen können. Zumindest
ein Gast. Das Zimmer reicht hinauf bis zum First, zwei große Dachfenster geben
ihm den Anschein eines Ateliers oder einer Kirche. Winnie zögerte keine
Sekunde, nachdem wir zum ersten Mal die Treppen hinaufgestiegen waren.
    Aber
wir haben nie Gäste. Winnie hat ihre Puppen und ihre Malerutensilien ins Loft
hinaufgebracht. Hier oben steht sie - oder besser gesagt, sitzt sie, denn es
gibt fast keinen Platz, um zu stehen -, wenn sie arbeitet, sie sagt, das Licht,
das durch die schmutzigen Fenster fällt, sei ideal, fast zu gut, in den ersten
Tagen war es sogar hinderlich, jetzt jedoch nicht mehr.
    Wir
wärmen uns eine Suppe vom Vortag in der Mikrowelle auf, dann sitzen wir
einander an dem hohen Steinmeyertisch aus Stahl und Glas gegenüber: die Suppe,
dunkles Brot mit Ziegenkäse aus Murrays phantastischem Käseladen auf der
Bleecker Street gleich um die Ecke, jeder mit einem Glas Weißwein. Winnie wird
nach der Mahlzeit betrunken sein, das ist ihrem Blick jetzt schon anzusehen.
    Ich
frage, ob sie malt. Sie nickt und fragt, ob ich schreibe. Ich antworte, dass
ich tatsächlich glaube, an etwas dran zu sein, sie schenkt mir ein etwas
skeptisches Lächeln.
    »An
etwas dran sein?«, fragt sie. »Meinst du das wirklich?«
    »Ich
glaube schon«, sage ich.
    »In
dieser düsteren Bibliothek?«
    »Ja.«
    »Ich
könnte niemals dort arbeiten.«
    »Ich
brauche nicht so viel Licht wie du.«
    »Es
ist einfach zu dunkel dort, ganz gleich, was man auch macht. Es erinnert mich
an meinen Großvater.«
    Als
Winnie zehn Jahre alt war, versuchte ihr Großvater, sich zu erhängen. Das Seil
riss, oder vielmehr brach der Querbalken, an dem er es befestigt hatte. Er
lebt immer noch, die letzten zwanzig Jahre hat er in einer Anstalt in einem
Vorort von Rotterdam gesessen. Oder gelegen. Ich habe ihn nie getroffen; seit
wir verheiratet sind, hat Winnie ihn zweimal besucht.
    Ihre
Eltern sind tot, genau wie meine. Ich habe keine Geschwister. Winnie hat eine
Schwester in London. Bis zu dem Zeitpunkt, als Sarah verschwand, hatten sie
miteinander losen Kontakt, aber nur per Email oder Telefon; ich habe sie nie gesehen,
und im letzten Jahr ist der Kontakt eingeschlafen. Ich glaube, es war Winnies
Entscheidung.
    »Ich
bin mir nicht sicher, ob es klappt«, sage ich. »Aber die Bibliothek gefällt
mir. Zumindest bis auf weiteres.«
    Winnie
erwidert nichts. Etwas ist mit ihr heute, an diesem Tag, passiert, das kann ich
sehen. Es ist nicht nur der leichte Schwips, da ist noch etwas anderes. Eine
Art fiebriger Energie, die sie zu verbergen versucht, sie hat einen Ausdruck in
den Augen, der da gestern noch nicht war, den ich noch nie gesehen habe, seit
wir hierher gekommen sind.
    Etwas
ist passiert. Normalerweise gefällt mir diese Wortkonstellation,
aber heute nicht.
    »Wie
geht es dir?«, frage ich.
    Wie
vorsichtig wir miteinander reden, denke ich. Wir nähern uns einander mit einer
Rücksichtnahme an, die nur als Maskierung für das Gegenteil dient; unsere
Worte fallen ebenso natürlich und liebenswürdig aus wie die Höflichkeiten vor
einem Duell oder die Häppchen nach einer Beerdigung.
    Nein,
so schlimm ist es nicht, nicht wirklich. Aber das Schweigen hat seine Grenzen,
es fällt mir schwer, es zu ertragen.
    »Es
ist etwas passiert«, sagt sie und holt gleich danach tief Luft, als fiele es
ihr schwer, genügend Sauerstoff zu bekommen. »Heute ist etwas passiert.«
    »Was?«,
frage ich.
    »Sarah«,
sagt sie. »Mir ist klar, dass sie lebt. Jetzt ist es mir klar geworden.«
     
    4
     
    Wir
gingen um eine Ecke und fanden eine Bar. Sie hieß Styx und sah nicht besonders
einladend aus, aber der Regen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher